Am 2. Juni 2023 wurde Kenan Ayas von Zypern an Deutschland ausgeliefert. Er war am 15. März 2023 auf der Grundlage eines von Deutschland ausgestellten Europäischen Haftbefehls wegen Mitgliedschaft in der PKK in Zypern festgenommen worden, obwohl ihm nur friedliche Aktivitäten vorgeworfen wurden.
Der Überstellung nach Deutschland ging ein langer juristischer und ziviler Kampf in Zypern gegen die Auslieferung von Kenan Ayas voraus. Dennoch hat das Bezirksgericht in Larnaca, Zypern, die Auslieferung von Kenan Ayas für zulässig erklärt. Gleichzeitig wies das Gericht in seiner Entscheidung vom 19. April 2023 auf die noch offenen Fragen hin, die von der deutschen Justiz geklärt werden müssen: Das zypriotische Gericht dürfe nicht die Stichhaltigkeit der Vorwürfe gegen Kenan Ayas prüfen. Vielmehr müsse in Deutschland geklärt werden, inwieweit es sich bei den Handlungen, die Kenan Ayas vorgeworfen werden, lediglich um eine politische Meinungsäußerung handelt und ob die PKK als terroristische Vereinigung einzustufen ist.
Heute war der 30. Verhandlungstag im Strafverfahren gegen Kenan Ayas vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg. Seit langem ist klar, dass die Erwartungen der zypriotischen Gesellschaft und der Justiz an eine transparente und umfassende Aufklärung der Terrorismusvorwürfe“ gegen Kenan Ayas nicht erfüllt wurden. Im Gegenteil: Mit einer Radikalität, die selbst für deutsche Staatsschutzstrafverfahren ungewöhnlich ist, weigert sich das Gericht, sich mit zentralen Fragen auseinanderzusetzen:
– Das Gericht interessiert sich nicht dafür, inwieweit die angeblichen Handlungen von Kenan Ayas von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt sind.
– Das Gericht stützt sich in wesentlichen Punkten allein auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse, deren tatsächliche Überprüfung es verweigert.
– Gleichzeitig führt das Gericht wichtige Beweismittel (Textnachrichten und Telefongespräche) nicht in die öffentliche Hauptverhandlung ein, so dass die Öffentlichkeit diese nicht zur Kenntnis nehmen und sich kein eigenes umfassendes Bild von den angeblich gegen Kenan Ayas vorliegenden Beweisen machen kann.
– Alle der mehr als 70 Beweisanträge der Verteidigung, die sich gegen die Anschuldigungen gegen Kenan Ayas richteten, wurden vom Gericht abgelehnt.
– Außerdem verschwieg das Gericht den politischen Charakter des Prozesses. Es erklärt nicht, warum der Europäische Haftbefehl gegen Kenan Ayas kurz vor dem NATO-Gipfel 2022 und dem Besuch des Chefanklägers beim türkischen Präsidenten Erdoğan beantragt wurde. Es ignoriert die Tatsache, dass Erdoğan persönlich das Strafverfahren gegen Kenan Ayas gelobt hat. Das Gericht schränkte zudem das Rederecht von Kenan Ayas ein und untersagte ihm, in der Hauptverhandlung ein einseitiges Gutachten zum „türkisch-kurdischen Konflikt“ zu erörtern.
Hamburg/Frankfurt/Nicosia, 7. Juni 2024
Rechtsanwältin Antonia von der Behrens,
Rechtsanwalt Stephan Kuhn, Frankfurt am Main
Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou, Nikosia, Zypern