Auf Zypern ist der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz nicht nachvollziehbar, nächste Woche wird eine Gruppe zur Beobachtung nach Hamburg kommen. Ob der Verfassungsschutz zur Aufklärung beitragen kann, wird sich am Donnerstag zeigen.
In Hamburg ist der Prozess gegen Kenan Ayaz (Behördenname: Ayas) fortgesetzt worden. Gegen den aus Zypern an Deutschland ausgelieferten kurdischen Aktivisten wird seit Anfang November vor dem Hanseatischen Oberlandesgerichts wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Betätigung für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach §129b StGB verhandelt.
Zu der Verhandlung am Montag kamen erneut zahlreiche Prozessbeobachter:innen, darunter auch der aus Schweden angereiste kurdische Musiker Serhado, der seinen Onkel Kenan Ayaz bereits während dessen elfjähriger Inhaftierung in der Türkei im Gefängnis besuchte. Für das Verteidigungsteam waren Rechtsanwältin Antonia von der Behrens und der zyprische Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou sowie dessen Kanzleikollege Socrates Tziazas anwesend.
Am Vormittag wurde ein ehemaliger LKA-Beamter aus Bremen als Zeuge zu Observationen von vermeintlichen PKK-Treffen im Frühjahr 2019 in Bremen und Hamburg befragt. Nach der Pause wurde entschieden, auf die Ladung des kurdischen Aktivisten Mehmet D. als Zeugen zu verzichten, weil dieser über seinen Rechtsanwalt mitgeteilt hatte, von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen.
Befriedigung türkischer Forderungen
Rechtsanwalt Efstathiou gab eine ergänzende Begründung zum Widerspruch der Verteidigung gegen das in PKK-Prozessen in Deutschland übliche Selbstleseverfahren ab und betonte dabei die spezifische europäische und zyprische Perspektive. Zum einen sei der Grundsatz der Öffentlichkeit in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert, zum anderen bestehe auf Zypern ein großes öffentliches Interesse, führte der Verteidiger aus.
Kenan Ayaz hatte vor seiner Auslieferung an Deutschland seinen Wohnsitz auf Zypern. Von deutscher Seite sei die Zusicherung erteilt worden, dass er im Falle einer Verurteilung die Strafe in Zypern verbüßen kann, sagte Efstathiou. Es handele sich bei diesem Verfahren also nicht um ein „gewöhnliches“ PKK-Verfahren, von denen es bereits viele Deutschland gegeben habe, sondern um eines, das einen engen Bezug zu dem EU-Mitgliedstaat Zypern hat und dort auf ganz erhebliches öffentliches Interesse stoße. Nach dem Empfinden des zypriotischen Durchschnittsbürgers diene die strafrechtliche Verfolgung von Kenan Ayaz der Befriedigung türkischer Forderungen und es herrsche die Auffassung vor, dass „die Türkei die NATO und besonders auch Deutschland aufgrund von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen faktisch erpresst“, so der zyprische Rechtsanwalt.
Wird der Verfassungsschutz zur Aufklärung beitragen?
Der Prozess gegen Kenan Ayaz wird am Donnerstag, 14. Dezember, um 9.30 Uhr mit der Anhörung von Mitarbeitern des Landes- und Bundesamtes für Verfassungsschutz fortgesetzt. Möglicherweise werden sich aus der Zeugenbefragung weitere Hinweise auf die Arbeitsweise der deutschen Behörden bei der vom türkischen Staat gewünschten Verfolgung kurdischer Aktivist:innen ergeben. Die Verteidigung hatte bereits in ihrer Eröffnungserklärung darauf hingewiesen, dass die Ermittlungen gegen Kenan Ayaz zwei Jahre lang ruhten und erst kurz vor dem NATO-Gipfel 2022 plötzlich ein Haftbefehl beantragt wurde.
Gruppe aus Zypern reist zur Prozessbeobachtung an
Zu den Verhandlungen in der kommenden Woche wird eine Gruppe aus Zypern zur Prozessbeobachtung anreisen. Am Dienstag, 19. Dezember, wird der Sachverständige Günter Seufert seine Ausführungen zur kurdischen Frage fortsetzen. Die weiteren Termine in der nächsten Woche sind Mittwoch, 20. Dezember, und Donnerstag, 21. Dezember, jeweils um 9.30 Uhr.
Das Solidaritätskomitee #FreeKenan ruft weiterhin zur Prozessbeobachtung auf und bittet angesichts der hohen Ausgaben für Dolmetscher:innen u.a. um Spenden an die Rote Hilfe e.V. OG Hamburg, IBAN DE06 2001 0020 0084 610203, Stichwort: Free Kenan
Vollständige Erklärung von Rechtsanwalt Efstathiou zum öffentlichen Interesse
Während die Strafverfolgung in der Europäischen Union zwar grundsätzlich eine Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt, liegt der Schwerpunkt des europäischen Strafrechts auf einer Vereinfachung der grenzüberschreitenden Strafverfahren durch Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit, insbesondere in dem Bereich der Rechtshilfe. Dabei verfolgt die Europäische Union das Ziel, dass sämtliche Mitgliedstaaten einen einheitlichen Rechtsraum, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, bilden sollen. Die Unterschiede in den Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten sollen nicht aufgehoben werden, da sie unmittelbarer Ausfluss der staatlichen Souveränität und der sozialethischen und kulturellen Wertvorstellungen der jeweiligen Mitgliedstaaten sind. Der einheitliche Rechtsraum soll hingegen durch eine gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen der Strafjustiz hergestellt werden.
Entsprechend hat das europäische Strafrecht eine Vielzahl von Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen geschaffen. Genauso wichtig wie die formale Anerkennung ist, dass diese Entscheidungen auch in dem jeweiligen Mitgliedstaat, in dem die strafrechtlich verfolgte Person ursprünglich ihren Wohnsitz hatte und wo im Falle einer Verurteilung die Strafe vollstreckt werden soll, Akzeptanz finden. Mitgliedstaaten zur Vollstreckung von Strafurteilen zu verpflichten, die keine Akzeptanz finden, weil sie als gegen die ethischen Werte der Bevölkerung verstoßend wahrgenommen werden, können zu einer Ablehnung europäischen Rechts führen.
Eine Möglichkeit, Akzeptanz von strafrechtlichen Urteilen herzustellen, ist eine transparente und kommunikative Prozessführung, die auch das Informationsinteresse der Öffentlichkeit miteinbezieht und die universellen Prinzipien der Mündlichkeit und Öffentlichkeit von Strafverfahren berücksichtigt.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist auch verankert in Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Gerichtshof hat den hohen Stellenwert des Öffentlichkeitsgrundsatzes betont: „Die Öffentlichkeit trägt zur Verwirklichung des Ziels von Artikel 6 Absatz 1 bei, nämlich zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, das eines der Grundprinzipien jeder demokratischen Gesellschaft ist, in dem sie die Rechtspflege transparent macht.“ (EGMR Riepan v. Austria, Nr. 35115/97, Urteil vom 14 November 2000). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen Einschränkungen dieses Grundsatze erforderlich und verhältnismäßig sein; dies kann unter anderem der Fall bei sicherheitsrelevanten Themen oder zum Schutz von jugendlichen Angeklagten oder Opfern sein. Schließlich ist auch Art. 10 EMRK betroffen, der auch das Recht der Medien auf Berichterstattung über den Gerichtsprozess einschließt.
Auch wenn die Hauptverhandlung gegen Kenan Ayas öffentlich ist, erfolgt durch die Anordnung der Verlesung von Urkunden im Selbstleseverfahren ein Teil der Beweisaufnahme außerhalb der Hauptverhandlung und ohne, dass die Öffentlichkeit anderweitig von dem Inhalt der Urkunden Kenntnis nehmen kann und ohne dass somit anwesende Medienvertreter oder sonstige Personen über diese Beweise berichten können. Es ist für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar, welche Urkunden auf diese Art und Weise eingeführt werden sollen. Es kann aber festgehalten werden, dass es sich bei diesen Urkunden um die zentralen Beweismittel im Sinne der Anklage gegen Kenan Ayas handeln soll.
Eingedenk dieser Grundsätze ist in die Ermessensentscheidung darüber, welche Teile der Beweisaufnahme mündlich und in öffentlicher Hauptverhandlung verhandelt und welche ins Selbstleseverfahren ausgelagert werden sollen, das öffentliche Interesse an dem Verfahren in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu berücksichtigen.
Kenan Ayas hatte vor seiner Übergabe an Deutschland aufgrund des Europäischen Haftbefehls seinen Wohnsitz auf Zypern. Außerdem wurde von der deutschen Seite die Zusicherung erteilt, dass Kenan Ayas im Falle einer Verurteilung die Strafe in Zypern verbüßen kann. Es handelt sich bei diesem Verfahren also nicht um ein „gewöhnliches“ PKK-Verfahren, von denen es bereits viele Deutschland gegeben hat, sondern um eines, das einen engen Bezug zu dem EU-Mitgliedstaat Zypern hat und das auf Zypern auf ganz erhebliches öffentliches Interesse stößt.
Welche Wichtigkeit dieses Verfahren auf Zypern hat und wie flächendeckend dort in allen Medien darüber berichtet wird, ist aus einer deutschen Perspektive sicherlich schwer vorstellbar, wo die öffentliche Aufmerksamkeit sehr gering ist.
Die zyprischen Nachrichtensender (ANT1 Cyprus, Alpha TV, Omega TV, and Sigma TV), einschließlich des staatlichen Senders CYBC, haben über die zyprischen Gerichtsverfahren, in denen über die Zustimmung zur Auslieferung aufgrund des Europäischen Haftbefehls verhandelt wurde, berichtet. Dieselben Medien berichten nunmehr über das Verfahren vor dem hiesigen Gericht.
Ebenfalls ist das Thema in zwei der vier größten Tageszeitungen Zyperns ständig präsent, nämlich in „Fileleftheros“, eine Tageszeitung in Nikosia, sowie in „Haravgi“, die auflagenstärkste Tageszeitung Zyperns. Darüber hinaus widmet die Wochenzeitung „Simerini“ dem Fall von Kenan Ayas viel Raum. Selbstredend erhält der Fall in den sozialen Netzwerken viel Aufmerksamkeit.
Diese Berichterstattung spiegelt die besondere Sensibilität wider, die es für den kurdischen Freiheitskampf in der zyprischen Bevölkerung gibt. In dieser Sensibilität wurzelt auch das Gefühl eines erheblichen Teiles der zyprischen Bevölkerung, dass mit der Auslieferung von Kenan Ayas an Deutschland die Republik Zypern ihre eigenen sozialethischen und kulturellen Wertvorstellungen aufgegeben und sich schlicht der Macht gebeugt hat. In Zypern – ich hatte es bereits am zweiten Hauptverhandlungstag gesagt – gelten die kurdische Bewegung als Bündnispartner und Kenan Ayas als ein Freiheitskämpfer im gemeinsamen Kampf gegen das aggressive und autokratische türkische Regime. Die Bevölkerung Zyperns hat aufgrund der eigenen Opfer der türkischen Invasion und der Besatzung ein anderes Verhältnis zur Türkei als dies offenkundig in Deutschland vorherrscht.
Nach dem Empfinden des zypriotischen Durchschnittsbürgers dient deshalb die strafrechtliche Verfolgung von Kenan Ayas der Befriedigung der türkischen Forderungen. Es herrscht die Auffassung vor, dass die Türkei die NATO und besonders auch Deutschland aufgrund von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen faktisch erpresst.
Entsprechend besteht auch auf politischer Ebene in Zypern ein großes Interesse an dem Strafverfahren gegen Kenan Ayas. Dies gilt mit Ausnahme der rechtsextremen ELAM für alle politischen Parteien in Zypern, das heißt für AKEL, die Partei der Linken, die Partei der Grünen, die Partei der Sozialistischen Demokraten und der DHKO, der Partei der Demokratischen Mitte, sowie für die außerparlamentarischen linken Parteien und Organisationen. Ebenfalls verfolgen alle sechs zypriotischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments das Verfahren aufmerksam.
Der Grundsatz des öffentlichen Zugangs zu Gerichtsverfahren ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes, denn nur durch Transparenz kann die Macht kontrolliert und die Justiz auch Akzeptanz finden. Dieser universelle Grundsatz dient auch, wie ich gezeigt habe, der Herstellung eines europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Die Einschränkungen des Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsprinzips und damit die Hinnahme eines Transparenzdefizits in dem vorliegenden Verfahren hätte gravierende Folgen für die Wahrnehmung des Verfahrens in Zypern.
Solche eine Einschränkung wird bei großen Teilen der zypriotischen Bevölkerung das Gefühl auslösen, dass etwas verborgen werden soll und es Sorge gibt, die Beweise in der Öffentlichkeit zu erörtern. Sollte es zu einer Verurteilung von Kenan Ayas kommen, würde das Vorgehen, sämtliche Urkunden im Selbstleseverfahren einzuführen und die somit fehlende Berichterstattung über diese Beweise, es der zypriotischen Bevölkerung sehr schwer machen, ein Verständnis und eine Akzeptanz für das Urteil zu entwickeln. Letztlich würde solch ein Vorgehen also auch das Vertrauen der europäischen Öffentlichkeit und insbesondere der zypriotischen Öffentlichkeit in die Justiz der einzelnen Mitgliedstaaten schwächen.
Diese Nachteile wiegen umso schwerer, als dass nicht erkennbar ist, warum die Einführung im Selbstleseverfahren notwendig ist. Eine Erforderlichkeit im Sinne der Rechtsprechung des EGMR ist gerade nicht erkennbar. Das Verlesen der SMS dürfte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen und in Bezug auf die Verlesung von Vermerken und sonstigen Schriftstücken schließe ich mich meinen Kollegen an, dass bei der Verlesung in der Hauptverhandlung eine gezielte Vorauswahl getroffen werden könnte, die für die Verfahrensbeteiligten die Transparenz noch einmal erhöhen würde.
Schließlich hat auch Kenan Ayas das Recht, dass alle in der Anklage genannten beziehungsweise vom Gericht herangezogenen Beweise in öffentlicher Hauptverhandlung erörtert werden, damit ihm später nicht vorgehalten werden kann, man könne nicht sicher sein, ob er sich nicht vielleicht doch an terroristischen Taten beteiligt hat, weil die Beweise ja nicht bekannt seien. Dass Kenan Ayas mit solchen Verdächtigungen konfrontiert werden wird, ist keine abstrakte Gefahr, sondern bereits eingetreten. Auf Zypern hat nämlich bereits eine kleine Minderheit von Journalisten und Politikern diese Fragen gestellt, da es für sie schlicht nicht vorstellbar ist, dass Deutschland solch einen Aufwand in Bezug auf die Auslieferung, die harten Haftbedingungen und unseren großen Prozess für eine Person betreibt, der nicht mehr vorgeworfen wird, als legale Demonstrationen im Namen der PKK koordiniert, an Versammlungen teilgenommen und Spendensammlungen beaufsichtigt zu haben, was alles auf Zypern nicht strafbar wäre.