Der kurdische Aktivist Kenan Ayaz ist in Hamburg zu vier Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Cansu Özdemir (Die Linke) spricht von einem fatalen Signal für den Rechtstaat und die Opposition in Kurdistan und der Türkei.
Verschärfte Verfolgungspraxis gegen kurdische Bewegung
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg hat heute den kurdischen Politiker und Aktivisten Kenan Ayaz wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ gemäß § 129b StGB zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Dem 50-Jährigen wurde vorgeworfen, sich als „Gebietsverantwortlicher“ der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betätigt zu haben. Dabei soll er lediglich an der Organisation von „Propagandaveranstaltungen und Versammlungen“ wie Demonstrationen und Festivals beteiligt und in Spendensammlungen eingebunden gewesen sein. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Kenan Ayaz saß aufgrund seines Engagements gegen die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung bereits zwölf Jahre in der Türkei im Gefängnis. Seit 2013 lebte er als anerkannter Flüchtling auf Zypern. Im März vergangenen Jahres wurde er aufgrund eines von der deutschen Justiz erwirkten europäischen Haftbefehls in Zypern festgenommen und nach Deutschland überstellt. Seit Juni befindet er sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis. Das Verfahren gegen Ayaz hatte im November vergangenen Jahres begonnen. Die Bundesanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren gefordert, die Verteidigung forderte hingegen einen Freispruch.
„Gegen die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung! Freiheit für Kenan Ayaz!“ war auf einem Transparent vor dem OLG zu lesen © ANF
Letztes Wort von Kenan Ayaz
Begonnen hatte der Gerichtstag mit einer Kundgebung vor dem OLG von Unterstützer:innen des Bündnisses #FreeKenan. Die Teilnehmenden forderten den Freispruch von Kenan Ayaz und eine Beendigung der Verfolgung von Kurdinnen und Kurden.
Im Gerichtssaal begann Kenan Ayaz den letzten Abschnitt seiner Erklärung zu verlesen. Am 3. August 2014, als der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) Şengal angegriffen habe, seien sowohl die irakische Armee als auch die Peşmerga geflohen. „Es war die kurdische Freiheitsguerilla, die Şengal erreichte und einen größeren Völkermord verhinderte“, erklärte Ayaz.
„Die Auftraggeber des IS, allen voran Erdoğan, wollen verhindern, dass die Kurd:innen ein wesentlicher und mächtiger Akteur in dem neuen System werden, das an die Stelle der zusammengebrochenen despotischen Regime im Irak und in Syrien treten soll. Sie wollen nicht, dass das kurdische Volk einen Status mit eigener Identität, Sprache, Kultur und Freiheit in dem neu gestalteten Nahen Osten erhält. Sie wollen keine freie kurdische Verwaltung in Rojava, genauso wenig wie sie eine freie Verwaltung in Südkurdistan wollen“, so Ayaz.
Erdoğan habe mit den Angriffen auf Şengal und Kobanê den Kurd:innen faktisch den Krieg erklärt. Nach der Einnahme von Mossul und dem Genozid in Şengal habe Erdoğan den IS dazu gebracht, seinen Angriff statt auf Damaskus auf Kobanê zu konzentrieren. „In Kobanê haben Frauen den Widerstand angeführt. Die Welt hatte Angst vor dem IS und der IS hatte Angst vor den Frauen. Der IS, eine der gefürchtetsten Organisationen der Welt, wurde durch den Kampf der Frauen besiegt.“
Erdoğan plant die Vernichtung der Kurd:innen
Die gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen zwischen Öcalan und dem türkischen Staat, der sogenannte „Dolmabahçe-Konsens“, einem Abkommen mit einem Zehn-Punkte-Plan für eine Lösung der kurdischen Frage, sei von Erdoğan am 22. März 2015 einseitig aufgekündigt worden. „Viele Menschen in der Türkei und Kurdistan hatten große Hoffnungen in diesen Vertrag gesetzt und gehofft, dass der Krieg beendet würde. Und so begann die Apokalypse, in der wir jetzt leben“, fuhr Ayaz fort. „Erdoğan trat an die Stelle des besiegten IS gegen die Kurd:innen. Er bombardierte Wahlkampfveranstaltungen in Kurdistan und der Türkei und ließ den IS blutige Anschläge auf Friedensdemonstrationen verüben. Und Erdoğan begann, den Genozidplan, den Vernichtungsplan, den er am 30. Oktober 2014 beschlossen hatte, umzusetzen“, beschrieb Ayaz den nun folgenden umfassenden Krieg gegen die Kurd:innen.
Solingen ist eine Folge der Unterstützung des IS durch das AKP-Regime
An dieser Stelle unterbrach Kenan Ayaz seine vorbereitete Rede und kommentierte die Ereignisse von Solingen. Er sprach den Opfern von Solingen sein Beileid aus und wünschte den Verletzten baldige Genesung. Er wies auf die Drohungen hin, die Erdoğan gegen Europa ausgesprochen hatte und die darauffolgenden Anschläge in Paris und Brüssel durch den IS. Dieser habe nicht nur Waffen an den IS geliefert, sondern auch mit der Besatzung von Teilen Nordsyriens dem IS eine neue Basis geschaffen, der wiederum eine Bedrohung für die ganze Welt sei.
Die Terrorismuslüge
Im Folgenden ging Ayaz auf die engen Beziehungen zwischen Erdoğan und dem deutschen Staat ein. Grundlage der historischen Beziehungen sei die geostrategische Lage der Türkei. Diese habe die Türkei immer vermarktet. Deutschland habe die NATO dazu gebracht, sich aktiv an die Seite der Türkei in Bezug auf den Völkermord an den Kurd:innen stellen.
Die Isolierung der Kurd:innen begann laut Ayaz damit, dass man versuchte die Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme am 28. Februar 1986 der PKK anzulasten. Erst 34 Jahre später sei die PKK von diesem Vorwurf freigesprochen worden. Eine Wiedergutmachung für die Kurd:innen, die seit 34 Jahren Verfolgung, Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt waren, sei jedoch nicht geleistet worden. Die „Terrorismus”-Lüge, mit der die PKK aufgrund dieses Mordes etikettiert worden war, sei nicht beseitigt worden.
Türkei darf Massaker verüben, aber Kurd:innen dürfen nicht protestieren
Ayaz kommentierte das 1993 in Deutschland erfolgte sogenannte PKK-Verbot. In dieser Phase habe sich erstmals in Kurdistan ein ernst zu nehmender und übergreifender Widerstand entwickelt, „Zum ersten Mal in der Geschichte Kurdistans haben die Forderungen eines Volkes, das seine Grundrechte auf Freiheit und Anerkennung seiner Identität verteidigt, ein so breites Interesse und die Unterstützung der gesamten Gesellschaft gefunden. 1993 sei aber auch das Jahr gewesen, in dem der türkische Faschismus mit Unterstützung der NATO und Israels den Höhepunkt des Genozids erreichte, der bis 1996 andauerte Massaker und die Vernichtung von 4000 Dörfern, die Vertreibung von Millionen Menschen hätten die Menschen auf die Straße getrieben.
„Am 4. November protestierten die Kurd:innen an vielen Orten. Dies ist einer der Proteste, die Deutschland als Begründung für das PKK-Verbot anführt. Mit anderen Worten: Die türkische Republik darf Massaker verüben, aber die Kurd:innen dürfen nicht protestieren!
Das kurdische Potential in Europa, das die Welt über die Ereignisse in Kurdistan informierte, wurde von Deutschland unterdrückt. Demokratische und friedliche Protestaktionen in Deutschland gegen diesen schweren Angriff und die Brutalität des türkischen Staates gegenüber den Kurd:innen sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit wurden verhindert. Wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der in Europa lebenden Kurd:innen in Deutschland lebt, wird deutlich, dass dieser Angriff darauf abzielt, die Kurd:innen in ganz Europa zu neutralisieren“, führte Ayaz aus.
Die „Terrorliste“ Deutschlands und der EU sei die indirekte Legitimierung und Billigung der Barbarei, der Massaker und der völkermörderischen Politik des türkischen Staates, so Ayaz. Der türkische Staat rechtfertige sein barbarisches Vorgehen mit diesem Verbot und dieser Liste.
Deckmantel für den Genozid
Ayaz erinnerte an den Einmarsch der Türkei in Efrîn (Afrin) in Nordsyrien, an die gemeinsame Besatzung der Region durch die Türkei und die Salafisten, an die Zerstörung von Fabriken, Krankenhäusern, Schulen, Staudämmen, Wasser-, Strom- und Tankstellen, Raffinerien, Gebäuden und Infrastruktur. Der „Kampf gegen den Terrorismus“ sei eine große Täuschung, sagte Ayaz.. Er sei ein Deckmantel für Völkermord. Das Erdoğan-Regime sei heute das Monster des Nahen Ostens. Anstatt diese völkermörderische Mentalität zu bekämpfen, verbiete und verhafte Deutschland das unschuldige kurdische Volk, das sich im Würgegriff des Genozids befinde. Damit unterstütze Deutschland zumindest indirekt Faschismus, Kolonialismus und Völkermord.
Indirekt fördere Deutschland damit auch die Entstehung rechtsfaschistischer Parteien. „Man mag das übertrieben finden, aber wenn Deutschland sich auf die Lösung der kurdischen Frage konzentriert hätte und nicht auf das Verbot, wäre sie leicht zu lösen gewesen. Erdoğan hätte nicht nach Lust und Laune das Tor für Flüchtlinge öffnen und schließen können. Erdoğan hätte nicht über Flüchtlinge verhandeln können. Faschistische Parteien hätten das Flüchtlingsthema nicht ausnutzen können“, so Ayaz.
Sie legitimieren den Genozid
Ayaz erklärte, dass Menschenrechte offensichtlich nicht für Kurd:innen gelten würden. „Denn dann wäre ich heute nicht vor Gericht stehen und unser Volk wäre nicht dem Völkermord ausgesetzt […] Eine Gemeinschaft von mehr als vierzig Millionen Menschen wird im nationalen und internationalen Recht ignoriert.
„Statt die Verantwortlichen für den Völkermord strafrechtlich zu verfolgen – und das gilt insbesondere für Deutschland – legitimieren sie indirekt die genozidalen Handlungen durch die Verfolgung derer, die Widerstand gegen den Völkermord leisten. Unter dem Deckmantel des Terrorismus wird der Völkermord im Grunde vertuscht“, so Ayaz.
Der Kern der Anklage gegen die kurdische Bewegung sei, „dass die Türkei Völkermord begehen darf, dass man nicht einmal dagegen protestieren darf, dass man nicht einmal eine legale demokratische Demonstration organisieren darf. Sie kriminalisiert das demokratische Demonstrationsrecht, das ein Verfassungsrecht ist, als terroristische Aktivität, wenn es um Kurd:innen geht, und bezichtigt legitimen defensiven Widerstand des Terrorismus.
Die Bundesanwaltschaft definiert die PKK als terroristische Vereinigung, die sich zusammengeschlossen habe, um Verbrechen und Morde zu begehen. Sie wissen, dass das nicht stimmt. […] Wenn einem Volk angesichts von Massakern und völkermörderischen Angriffen, angesichts von Ungerechtigkeiten gegen seine Sprache und Kultur alle rechtlichen und politischen Lösungen versperrt sind, kann es notfalls zum kurz- oder langfristigen Widerstand greifen. Dies ist weder Rebellion noch Terrorismus, sondern ein legitimes und rechtmäßiges Recht. Es nicht zu tun, wäre ein Verstoß gegen Recht und Gesetz“.
Ayaz erklärte Selbstverteidigung sei ein verfassungsmäßiges Recht als auch eine Pflicht gegenüber dem Volk. „Seit Jahrzehnten lehne ich mich mit meiner Feder und mit meinen Worten auf. Das ist ein verfassungsmäßiges Recht. Aber in meinem Fall wird die Verfassung übergangen, um Erdoğan zufrieden zu stellen. Das ist auch ein Verstoß gegen das europäische Recht“ so Ayaz.
Er erinnerte an den Aufruf von 69 Nobelpreisträger:innen die einen Appell für die Freilassung Abdullah Öcalans und für eine friedliche Lösung des Konflikts mit den Kurd:innen an das Ministerkomitee des Europarates, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen gerichtet hatten und zitierte Elfriede Jelinek, die gesagt hatte:
„Es ist unerträglich für mich, im Zusammenhang mit Kurdistan und den Kurd:innen immer nur die Totschlagworte Terrorismus, Aufstand, Milizen bekämpfen, PKK-Stellungen vernichten, Operation zur Verdrängung etc. zu hören. Als wäre dieses kurdische Volk, das nur nach Autonomie und Freiheit strebt, der Superterrorist Europas, ja, der Welt. […] Abdullah Öcalan, der vom Großteil der kurdischen Bevölkerung als legitimer politischer Repräsentant gesehen wird, muss endlich, nach bald einem Vierteljahrhundert totaler Isolation, in dem er sich nicht einmal äußern durfte, freigelassen werden. Er wird am Lösungsplan für Kurdistan entscheidend mitarbeiten können. Er ist die große Befreiungsfigur für die Kurden. Seine Freilassung wird die Grundbedingung für eine friedliche Zukunft werden, letztlich auch für die Türkei.“
Mit den Worten: „Die Bundesrepublik Deutschland könnte sowohl bei der Durchsetzung des universellen Rechts als auch bei der Entwicklung der Türkei zu einem säkularen Rechtsstaat eine wesentliche Rolle spielen, indem sie den Appell dieser nobelpreisgekrönten Intellektuellen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen als Gewissen der Menschheit aufgreift und ihre engen Beziehungen zur Türkei für einen politischen Dialog über die kurdische Frage nutzt. Die Bundesrepublik Deutschland kann einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage leisten, indem sie Verantwortung übernimmt und die Initiative ergreift. Damit kann sie einen Beitrag zur Bewältigung des historischen Problems der Türkei leisten. Deutschland hat die Macht dazu, wenn es will“, schloss Ayaz sein letzes Wort.
Er dankte seinen Verteidiger:innen und den Unterstützer:innen. Er habe viel Post von Deutschen bekommen, diese seien das Gewissen des deutschen Volkes.
Verteidiger Kuhn: Verschärfte Verfolgungspraxis gegen kurdische Bewegung
Das zahlreich erschienene Publikum stand auf und klatschte. Nach einer Pause von zweieinhalb Stunden verlas die Richterin Wende-Spohrs ihr Urteil. Erwartungsgemäß verurteilte sie Kenan Ayaz zu vier Jahren und drei Monaten, indem sie behauptete, der kurdische Befreiungskampf sei nicht legitim und Kenan Ayaz sei ein Terrorist, obwohl er sich nur demokratischer Mittel bedient habe.
Der Anwalt von Kenan Ayas Stephan Kuhn kommentierte das Urteil folgendermaßen:
„Leider reiht sich das heutige Urteil nahtlos in die verschärfte Verfolgungspraxis des deutschen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung ein. Immer deutlicher werden dabei vermeintliche geopolitische Interessen über Grund- und Menschenrechte gestellt, immer maßloser Menschen für ihr gewaltfreies politisches Engagement bestraft.
Es ist bitter zu sehen, dass das türkische Regime auch vom deutschen Staat für seine völker- und menschenrechtsverachtende Politik belohnt wird, während der Glaube an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eine weitere Enttäuschung erfährt.
Das Gericht hat hier zwar von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass es trotz unklarer Beweislage und unter Zugrundelegung zweifelhafter geheimdienstlicher Behauptungen verurteilen wird. Dennoch hat die heutige Urteilsbegründung noch einmal eindrücklich den inneren Widerspruch der deutschen Repressionspraxis gezeigt, einerseits nicht umhin zu können jahrzehntelange menschenrechtswidrige Unterdrückung der Kurd:innen durch den türkischen Staat festzustellen und Verständnis für die hierdurch motivierte, für sich genommen legale politische Betätigung des Angeklagten zu äußern, anderseits eine derart hohe Strafe zu verhängen.
Umso bemerkenswerter ist es, dass Kenan Ayaz bis zuletzt mit umfangreichen politischen und historischen Analysen gegen alle Versuche der Verunglimpfung und Kriminalisierung des kurdischen Freiheitskampfes ankämpfte und das historische und zeitgenössische Unrecht der Herrschenden in der Türkei und Europa schonungslos aufzeigte und benannte“.
Cansu Özdemir: Fatales Signal
Das Urteil gegen Ayaz sorgte auch bei Cansu Özdemir für Empörung. Die justizpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft bezeichnete die Verurteilung des Kurden als „fatales Signal für den Rechtstaat und die Oppositionsbewegung in der Türkei und Kurdistan“. Özdemir ergänzte: „Es ist doch absurd: Ayaz werden vollkommen legale Handlungen vorgeworfen, die nur deswegen strafbar sind, weil die Bundesregierung mit dem PKK-Verbot dem Erdogan-Regime Schützenhilfe leistet. Wenn der deutsche Rechtsstaat aber auf Geheiß Erdogans solche politisch motivierten Anklagen durchwinkt, hat das nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Das Verbot der PKK muss endlich aufgehoben werden.“