Dem als PKK-Mitglied in Hamburg angeklagten Kurden Kenan Ayaz ist bei seiner Kritik an einem Gutachten das Wort entzogen worden. Der Angeklagte bezeichnete Erdogan als Faschisten und sagte, das Gericht sei offenbar nicht an der Wahrheit interessiert.
Im PKK-Prozess gegen den kurdischen Politiker Kenan Ayaz vor dem Oberlandesgericht Hamburg hat die Vorsitzende Richterin dem Angeklagten das Wort entzogen. Ayaz ist nach §§129a/b StGB wegen mitgliedschaftlicher Betätigung für die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) angeklagt. Er wurde vor einem Jahr auf Zypern aufgrund eines vom Bundesgerichtshofs beantragten europäischen Haftbefehls festgenommen und Anfang Juni 2023 nach Deutschland ausgeliefert. Seitdem befindet er sich in Hamburg in Untersuchungshaft. Der Prozess wurde im vergangenen November eröffnet und ist vorläufig bis Mitte Mai terminiert.
Stellungnahme zu fragwürdigem Gutachten
In der letzten Hauptverhandlung am Montag hat Kenan Ayaz den dritten Versuch gemacht, eine Erklärung zum Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen Dr. Günter Seufert abzugeben. In dem fünfzig Seiten umfassenden Gutachten nimmt Seufert auftragsgemäß Stellung zu folgenden Fragen: „a) Genese und Entwicklung des Kurdenkonflikts in der Türkei; b) Ideologie und Ziele der Vereinigung PKK/KCK; c) Organisations- und Führungsstrukturen der Vereinigung PKK/KCK, einschließlich der Strukturen in Europa (unter Erstellung eines Organigramms); d) Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit der Vereinigung PKK/KCK; Militärische und terroristische Vorgehensweisen und Aktivitäten der PKK/KCK“.
Das Gutachten wurde an vier Verhandlungstagen vorgetragen, der Sachverständige wurde auch von der Verteidigung und dem Angeklagten selbst befragt. Kenan Ayaz wurde dabei von der Vorsitzenden Richterin zwei Mal mit dem Hinweis unterbrochen, seine Fragen seien zu lang und enthielten Erklärungen, diese könne er nach dem Ende der Beweiserhebung abgeben, jetzt dürfe er nur Fragen stellen.
Irritierende Interventionen durch Richterin
Eine solche Erklärung versucht Ayaz in Verbindung mit weiteren Beweisanträgen seit drei Verhandlungstagen abzugeben. Seine Kritik an Leerstellen im Gutachten und falschen Angaben des Sachverständigen wird jedoch permanent von der Vorsitzenden Richterin unterbrochen. Auch am Montag kam es schnell zu unwirschen Interventionen durch die Richterin, mit der Begründung, der Angeklagte überschreite sein Erklärungsrecht. Kenan Ayaz und seine Verteidiger:innen Antonia von der Behrens und Stephan Kuhn machten jeweils in Stellungnahmen den Zusammenhang der fraglichen Textstellen mit dem Gutachten deutlich. Der Angeklagte erläuterte geduldig, auf welche Aussagen des Sachverständigen er sich bezog, und betonte immer wieder, dass der Gutachter in seinen alten Texten – deren Verlesung Ayaz beantragt hatte – eine andere Position eingenommen hat, als in seinem in der mündlichen Verhandlung erstatteten Gutachten.
Erregte Reaktion auf die Frauenrevolution in Rojava
Unerträglich schien es für die Richterin zu werden, als Kenan Ayaz in seiner Stellungnahme zu den Ausführungen im Gutachten in Bezug auf Rojava (Autonomieregion Nord- und Ostsyrien) erklärte: „Die Revolution in Rojava ist eine Revolution, die von Frauen geführt wird. Ihr Charakter ist dadurch bestimmt, dass sie auf der Freiheit der Frauen basiert.“ Der türkische Staat greife „Kinder, Frauen, Schulen, Krankenhäuser, Wasseraufbereitungsanlagen, Fabriken, Elektrizitätswerke und ähnliche Orte an, er greift die Lebensräume von fünf Millionen Menschen an. Diese Angriffe stellen nach internationalem Recht Kriegsverbrechen dar. Trotzdem führt er seine Angriffe offen vor den Augen der Menschheit durch.“ An dieser Stelle folgte die nächste Unterbrechung, und die Richterin dachte sichtbar erregt laut darüber nach, dem Angeklagten das Rederecht zu entziehen.
Kenan Ayaz: „Alle reden über Kurden, kann ich als Kurde selber sprechen?“
Kenan Ayaz, der bereits zehn Jahre in türkischen Gefängnissen verbracht hat, reagierte mit gewohnter Souveränität und wies erneut mit erstaunlicher Geduld auf seine Kritikpunkte hin: Der Sachverständige habe für das Gerichtsgutachten eigene frühere Schriften zensiert und seine alten Ansichten ins Gegenteil verkehrt. Offenbar sei vom Gericht nicht gewünscht, dass die Wahrheit ans Licht komme. In dem Verfahren werde die ganze Zeit über die Kurd:innen gesprochen, das Gericht möge sich dieses Thema doch mal „aus dem Mund eines Kurden“ anhören. Daraufhin sagte die Richterin: „Sie haben mich nicht zu belehren, ich leite die Verhandlung.“
Richterin: „Ich beantworte Ihre Fragen nicht!“
Als Kenan Ayaz nachfragte, ob das Problem sei, dass er den türkischen Präsidenten Erdogan als Faschist bezeichne, wollte die Richterin nicht antworten („Ich beantworte Ihre Fragen nicht!“) und warf dem Angeklagten vor, er wolle offensichtlich sein eigenes Gutachten erstellen. Schließlich entzog die Vorsitzende Richterin Kenan Ayaz das Wort und argumentierte, seine bisherige Erklärung habe überwiegend aus Meinungen und eigenen Wertungen bestanden. Die Anordnung der Richterin wurde von der Verteidigung nach einer Verhandlungsunterbrechung beanstandet. Daraufhin sprach sich die Bundesanwaltschaft dafür aus, auch die restliche Erklärung des Angeklagten zu hören. Auf die Beanstandung der Anordnung durch die Verteidigung muss ein Beschluss des aus drei Richterinnen bestehenden Senats erfolgen. Die Verhandlung wurde auf heute vertagt.
Verteidigung: Fehldeutungen führen zu falschen Schlussfolgerungen
Die Verteidigung beanstandet, dass ihrem Mandanten eine rechtsmissbräuchliche Ausübung seines Erklärungsrechts unterstellt wird. Kenan Ayaz habe die Ausführungen des Sachverständigen analysiert und kritisiert und ihre Relevanz für das Verfahren aus seiner Sicht eingeordnet, so die Verteidiger:innen in der Begründung ihrer Beanstandung:
„Herr Ayaz geht dabei ersichtlich davon aus, dass umfassende Kenntnisse der historischen Bedingungen des Kurdenkonflikts dessen moderne Ausprägung, die Gegenstand des hiesigen Verfahrens ist, verstehbar machen und sich nur vor diesem Hintergrund die Handlungsbedingungen und -spielräume heutiger Akteure einordnen lassen: Bspw. sei hier die Einsicht aufgeführt, dass der Konflikt nicht durch einen Staat, sondern nur transnational zu lösen sei. Ein anderer wesentlicher Punkt ist, dass die Analyse der unzureichenden demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung der Türkei eine Lösung der kurdischen Frage nur in Verbindung mit einer Demokratisierung der Türkei möglich erscheinen lässt. Schließlich analysiert er den Konflikt als einen solchen, der seitens der Türkei mit einer auch auf physischer Vernichtung der Kurden gründenden Praxis betrieben wird. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Ausgangspunkt zu anderen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage der Möglichkeit des völligen Verzichts auf die Möglichkeit bewaffneten Widerstands hinausläuft. All dies muss der Angeklagte jedoch aus den historischen Bedingungen entwickeln und darlegen, um aufzeigen zu können, an welchen Punkten der Sachverständige durch einen verkürzten historischen Zugang, Fehldeutungen der historischen oder aktuellen Situation zu falschen Schlussfolgerungen oder Bewertungen seiner Analyse der Ursachen oder Umstände des Konflikts, des Handelns und der Ideologie seiner Akteure gelangt.“
Weitere Verhandlungstermine
Aufgrund eines richterlichen Beschlusses werden aktuell die Ausweise von Besucher:innen kopiert. Hintergrund ist, dass die Vorsitzende Richterin die durch Klatschen ausgedrückte Solidarität gegenüber dem Angeklagten nicht ohne Weiteres duldet. Weitere Verhandlungstermine sind:
Dienstag, 12.3.2024;
Mittwoch, 20.3.2024;
Freitag, 12.4.2024, ab 13 Uhr;
Mittwoch, 17.4.2024;
Freitag, 19.4.2024;
Montag, 22.2.2024;
Mittwoch, 24.4.2024;
Freitag, 26.4.2024
Donnerstag, 2.5.2024
Mittwoch, 15.5.2024
Der Prozess findet im 1. Stock des OLG am Sievekingplatz 3 statt, entweder in Saal 237 oder 288, die Verhandlungen beginnen in der Regel um 9:30 Uhr.
Postadresse und Spendenkonto
Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamens „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.
Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg
Spendenkonto:
Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203