Tag 6 – Erklärung von Kenan Ayas vor dem Gerichtshof

Sehr geehrtes Gericht, sehr geehrte Vertreter der Staatsanwaltschaft, liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Öffentlichkeit,

das Verfahren stellt sich für mich so da, dass ich hier in meiner Identität als Kurde und wegen meiner Haltung angeklagt bin. Der Kampf der kurdischen Bewegung gegen Völkermord und für ihre Existenz und Freiheit wird in der Anklage als Terrorismus bezeichnet. Ich kann diesen ungeheuerlichen Vorwurf nur mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Wir Kurden haben am eigenen Leib erfahren, was Terrorismus wirklich ist, was völlig entgrenzte Grausamkeit, die Angst und Schrecken weltweit verbreitet, bedeutet. Wir waren und sind die Opfer des Terrorismus des Islamischen Staates und des Staatsterrorismus des türkischen Staates sowie der Nationalstaaten, die Kurdistan besetzt haben. Allein in diesen Tagen wird die Infrastruktur in Rojava vom türkischen Militär zerstört, werden Zivilistinnen und Zivilisten ermordet und unendlich viele Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt und vertrieben.

Weil wir alle Identitäten verteidigen, alle Kulturen, alle Glaubensrichtungen und die Freiheit der Frauen verteidigen, wurden wir zur Zielscheibe der reaktionären Staaten in dieser Region und des Islamischen Staates. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass man den gerechten Kampf der Kurdinnen und Kurden unterstützen und ihn nicht im Interesse der Türkei verfolgen sollte. Deshalb erzähle ich meine Geschichte, die zugleich die Geschichte von so vielen Menschen unseres Volkes ist. Und deshalb versteht man meine Geschichte auch nicht, ohne die Geschichte der Kurdinnen und Kurden zu kennen und ohne zu wissen, mit welchen kollektiven Erinnerungen wir aufgewachsen sind.

Die Kurden gehören zu den ältesten Völkern der Menschheitsgeschichte. Es ist schwierig, ihre lange und leidvolle Geschichte kurz zu schildern. Von der neolithischen, chalkolithischen, bronzezeitlichen, städtischen und eisernen Revolution, von der Mythologie über die Philosophie, die Religion und die Wissenschaft fanden viele Umwälzungen, die die Menschheit in die Gegenwart geführt haben, im fruchtbaren Halbmond genannten Gebiet statt, zu dem insbesondere auch die Siedlungsgebiete der Kurdinnen und Kurden gehörten.

Die neolithische Revolution, also die Sesshaftwerdung und der Beginn des Ackerbaus und der Tierzucht, nahm ihren Ausgang in dieser fruchtbaren Gegend. Der durch die Sesshaftwerdung erwirtschaftete Reichtum zog auch Feinde an und lud zu Angriffen ein. In der Frühzeit wurde diese Gegend also auch zum Schlachtfeld. Mit der Entwicklung von zivilisatorischen Systemen, die auf Überschussproduktion basierten, begann die Periode systematischer Machtentfaltungen der herrschenden Gruppen auf der Grundlage von Stadt-, Klassen- und Staatsstrukturen.

Von der sumerischen Zivilisation bis zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten, der hegemonialen Macht der heutigen Zivilisation, hat es nie an direkten und indirekten Angriffen auf die Gemeinschaften in dieser Region gefehlt. Auf diese Weise sind Gegenden, die als Paradiese bezeichnet wurden, zu verfluchten Landstrichen geworden. Der Hintergrund des Unglücks und der Verfluchung der Kurdinnen und Kurden ist eine Geschichte brutaler Kriege.

Seit der Entstehung der staatlichen Zivilisation ist das historische Kurdistan zugleich auch Kriegsschauplatz. Die Kurden konnte ihre Existenz nur schützen, indem sie sich auf die Gipfel und in die Tiefen der Berge zurückzogen. Sie mussten Widerstand leisten, um zu überleben. Nur der Widerstand blieb ihnen. Widerstand ist ein anderer Name für das kurdische Überleben.

Die Kurdinnen und Kurden haben unter dem Chaos und den Kämpfen zwischen den jeweiligen Hegemonialmächten gelitten. Sogar die Frage ihrer Existenz war Gegenstand von Diskussionen der Hegemonialmächte. Das Heimatland der Kurden wurde durch den Vertrag von Lausanne in vier Teile geteilt. Bevor sie sich vor den Machenschaften der Hegemonialmächte retten konnten, wurden sie mit dem verleugnenden und zerstörerischen genozidalen Angriffen ihrer Nachbarn konfrontiert. Die Heimat der Kurden, die an der Gründung der türkischen Republik beteiligt waren, war verloren, die Existenz der Kurden wurde geleugnet, und übrig blieben ein paar Wilde, die in den Bergen und im Schnee das Geräusch „kart-kurt“ machten, stumm und staatenlos.

Es wurde ein Umfeld geschaffen, in dem die Aussage „Ich bin Kurde“ gleichbedeutend damit war, allein zu sein, eines Tages alle Entwicklungswege versperrt zu sehen und sogar mit allen möglichen Gefahren konfrontiert zu werden. Kurde zu sein wurde zum Übel. Der Kurde wurde zu einem problematischen Wesen, das schwer zu verteidigen war. Der Status der Kurdinnen und Kurden in dieser Welt bestand darin, keinen Status zu haben. Sie wurden verleugnet, vernichtet und massakriert und ihre Sprache und Kultur wurden verboten. Die Selbstverteidigungssysteme, die die Kurden als Stämme und Clans in den Bergregionen seit Urzeiten entwickelt hatten, reichten nicht aus, um den Angriffsmitteln des kapitalistischen Systems standzuhalten. Die Kurdinnen und Kurden mussten sich organisieren, sie mussten eine Identität und ein eigenes Bewusstsein entwickeln, um sich verteidigen zu können. Dieser Widerstand wird heute als Terrorismus bezeichnet.

Es ist eine bittere Konsequenz, dass Kurdinnen und Kurden, die um ihre Existenz kämpfen und Widerstand leisten, als Terroristen bezeichnet werden. Wenn sie aber nicht für ihre Rechte eintreten und schweigen, wird ihnen noch Schlimmeres widerfahren. Das ist genau die Situation, in der man in der Falle sitzt oder in die Falle getappt ist. Den Kurdinnen und Kurden wird weder Politik, noch Kampf, noch Frieden zugestanden. Es ist sehr schwer, als Kurde zu leben. Kurz gesagt, das kurdische Volk ist ein unschuldiges Volk unter der Hegemonie von Nationalstaaten, das durch zahlreiche Massaker, Besatzung, Kolonialisierung, Assimilation, Genozid und Zwangsintegration in einem Umfeld ständiger Kriege an den Rand der Auslöschung gebracht wurde.

Ich bin ein Sohn dieses Volkes

Ich bin ein Sohn dieses Volkes und ohne seine Geschichte kann auch meine Geschichte nicht verstanden werden. Meine Geschichte habe ich, so gut es unter den schwierigen Bedingungen der Haft in dem Gefängnis in Hamburg möglich war, aufgeschrieben, angefangen bei meiner Geburt bis zu meiner Niederlassung in Zypern. Natürlich sind das nur einzelne Schlaglichter, ansonsten müsste ich tagelang über die Folter und Erniedrigung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in der Türkei berichten, aber auch über die Solidarität unter den politischen Gefangen, dem erfolgreichen Widerstand in den Gefängnissen, über die Freunde, die Menschen ihre Geschichte vermitteln, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.

Im Jahr 1975 wurde ich im Dorf Halaxe, auf Türkisch Narli genannt, im Kreis Midyat in der Provinz Mardin in eine kurdische Familie geboren. Der kurdische Name unserer Familie lautete Segvan. Wahrscheinlich wurde ich im Juli oder August geboren. Zumindest sagte meine Mutter mir, es sei zur Erntezeit gewesen. Als Geburtsdatum wurde ein willkürliches Datum im Personenstandsregister eingetragen, nämlich der 1. April 1974. Mein älterer Bruder ist am 1. April 1973 registriert worden. Kurz nach meiner Geburt sind wir in die Stadt, nach Midyat, umgezogen.

Midyat liegt in einer gebirgigen Gegend, dem Tur Abdin. Eine Region mit einer Jahrtausende alten Geschichte, in der Kurden islamischen und ezidischen Glaubens, arabische Mhallami und christlich-orthodoxe Assyrer und Armenier zusammenlebten. In Midyat wurde Kurdisch, Assyrisch und Arabisch gesprochen. Es ist eine Stadt, die durch den Reichtum verschiedener Identitäten, Kulturen, Sprachen und Glaubensrichtungen geprägt ist, in der Gebetshäuser aller Religionen stehen, in der alles durcheinander tönt und läutet, aber es ist auch eine Stadt, die aufgrund der Zugehörigkeit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zu verschiedenen Religionen, Identitäten und Kulturen Völkermord und Massaker erlebt hat.

Die Geschichte meiner Familie ist eng mit der religiösen Vielfalt von Midyat verbunden. Meine Familie ist eine, die bewusst mit diesen verschiedenen Kulturen und Religionen zusammenlebte und lebt, die eins ist mit diesen Identitäten und der Vielfalt dieser Stadt. Sie genießt noch heute großen Respekt vor allem in den Augen der assyrischen und ezidischen Gemeinschaft.

Es war im Jahr 1915 während des Genozids an den Armeniern und Assyrern, als mein Großvater Temir Segvan die Führung beim Schutz der assyrischen Familien in unserem Dorf Halaxe übernahm. In dem Dorf mit 300 Haushalten gab es sieben assyrische Familien. Mein Großvater und weitere Dorfbewohner versteckten diese sieben Familien in einer sicheren Höhle und hielten tagelang Wache. Gegen die türkischen Soldaten, die immer wieder in das Dorf einfielen, um die Assyrer zu massakrieren, leisteten sie unter Gefahr für ihr eigenes Leben Widerstand und sagten ihnen: „Es gibt keine Assyrer in unserem Dorf, sie wurden alle getötet.“ Die völkermordenden Truppen glaubten diese Worte zunächst, griffen jedoch später das Dorf immer wieder an, bedrohten die Dorfbewohner mit dem Tod und sagten ihnen, sie würden ihnen nicht glauben und die ganze Dorfbevölkerung müsste dafür büßen, wenn sie Assyrer schützen würden. Trotz all diesen Drucks, der Gewalt und der Drohungen übergaben unser Dorf und mein Großvater die Familien nicht den Mördern, sondern brachten sie in das wenige Kilometer entfernt liegende assyrische Dorf Envert, das damals eine Hochburg des assyrischen Widerstands war.

Mein Großvater und seine Verwandten unterstützten den Widerstand in Envert, darunter auch sein Cousin Mela Ali, der ein Imam war. Während andere Imame zum Töten aufriefen, predigte Imam Ali das Gegenteil: „Wer einen Menschen tötet, kommt in die Hölle.“ Für meinen Großvater war es sehr wichtig, dass die Assyrer ihre Identität bewahren. Einige Assyrer versuchten zu konvertieren, um sich vor den Angriffen des Völkermords zu schützen. Mein Großvater hingegen war der Meinung, dass sie ihren Glauben auch angesichts dieser großen Gefahr nicht verraten sollten. Mein Großvater rettete auch zwei Mädchen, ein assyrisches und ein armenisches. Das assyrische Mädchen sagte zu meinem Großvater aus Angst und um sich vor dem Tod zu schützen: „Ich möchte dich heiraten.“ Mein Großvater nahm sie an den Schultern, küsste sie auf die Stirn und sagte: „Du bist meine Schwester und ich bin dein Bruder. Ich werde dich als meine Schwester mit dem verheiraten, den du heiraten möchtest.“ Später verheiratete er dieses Mädchen mit einem Assyrer, der ebenfalls den Völkermord überlebt hatte. Das assyrische Mädchen blieb ihr Leben lang in engem Kontakt mit meiner Familie. Noch ihre Enkelkinder fühlen sich mit uns verbunden und sprechen uns mit „Onkel“ an. Die Geschichte der Assyrer in unserem Dorf und die Rolle meines Großvaters wird sogar in Büchern über diese brutale Zeit erwähnt. Allerdings gab es nur sehr wenige Assyrerinnen und Assyrer, die auf diese Weise überlebten, denn nur wenige leisteten wie mein Großvater Widerstand gegen die Verfolgung, und viele von ihnen beteiligten sich sogar an den Massakern und Deportationen des Staates.

Die Überlebenden waren auch in den folgenden Jahrzehnten nach der Republikgründung nicht sicher, sie wurden ausgegrenzt, diskriminiert und angegriffen, immer wieder mussten sie um ihr Leben fürchten. Auch in Kurdistan versuchte der türkische Staat, die Bevölkerung gegen die Nichtmuslime aufzuhetzen. Der Staat sah die Besatzung Zyperns im Jahre 1974 als Gelegenheit und organisierte in Midyat Treffen mit Arabern in der Moschee und schmiedete Angriffspläne. Als mein Vater, der sehr viel Respekt genoss, und mein Onkel davon erfuhren, warnten sie die Assyrer, um das Massaker zu verhindern. Sie gaben ihnen zum Selbstschutz ein großes Gewehr und hielten mit 200 von ihnen zusammengerufenen Menschen in dem assyrischen Viertel Wache. Sie verkündeten, dass man nur über ihre Leiche die Assyrer töten könne. Mein Vater sah dieses Verhalten als Sohn meines Großvaters als selbstverständlich und sogar seine Pflicht an.

Auch wenn das für mich überholte Kategorien sind, ist es doch für die Geschichte meiner Familie wichtig, dass diese zum Eşiret – das verkürzt mit Stamm übersetzt wird – Heverka gehört. Ein Zweig der Heverka war staatstreu und einer aufständisch. Bevor die Jungtürken ihre Pläne für die Auslöschung der christlichen Bevölkerung umsetzten, konsultierten sie einige kurdische Stammesführer, um ihre Zustimmung zu erhalten. Die Vertreter des Eşiret Heverka stellten sich jedoch gegen die Pläne und verweigerten ihre Beteiligung. Daraufhin wurden alle ihre Vertreter verhaftet. Mein Großvater gehörte zu dem aufständischen Teil und stellte sich den völkermordenden osmanischen Soldaten entgegen. Und später, im Jahr 1925, nahm er an dem großen kurdischen Aufstand teil, der offiziell Scheich-Said-Aufstand genannt wird. Er kämpfte gegen andere mit dem Staat verbundene Stämme und musste schließlich nach Syrien fliehen.

Meine Eltern, Vesila und Yusuf, haben acht Kinder, sechs Jungen und zwei Mädchen. Ich bin das siebte Kind der Familie und damit der Zweitjüngste. Nachdem wir vom Dorf in die Stadt gezogen waren, ging es uns wirtschaftlich recht gut. Mein Vater betrieb einen Laden in Midyat und zusätzlich hatten wir noch die Felder im Dorf. Wir Kinder wurden mit den Geschichten über meinen Großvater und im Respekt vor anderen Religionen und vor allem vor den Assyrern erzogen. Das gehörte zur Identität meiner Familie, wie auch das Kurdischsein selbstverständlich dazugehörte.

Der erste große Schock meines Lebens

Kurz nach dem faschistischen Militärputsch vom 12. September 1980 wurde ich in der Grundschule in Midyat eingeschult. Schon Tage zuvor bereitete ich mich mit großer Aufregung auf den Schulbesuch vor und wartete nur auf den Beginn der Schule. Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen und ging schon Stunden bevor die Schule öffnete dorthin, ich war aufgeregt und voll Vorfreude, endlich lernen zu dürfen. Aber diese Gefühle wichen sehr schnell einem großen Schock. Die Sprache, die der Lehrer sprach, verstand ich nicht. Es war nicht die Sprache, die in meiner Familie, bei meinen unmittelbaren Nachbarn, bei den assyrischen und mihalmischen Kindern, mit denen wir auf der Straße spielten, gesprochen wurde. Diese Sprache war eine fremde Sprache, diese Sprache war Türkisch. Dieser Beginn meiner schulischen Laufbahn mit einer mir völlig unverständlichen und unbekannten Sprache hatte eine verheerende Wirkung auf mich. Es war der erste große Schock meines Lebens, vielleicht sogar das erste Trauma.

Ich habe Türkisch unter Schlägen gelernt. Unser Lehrer hatte einen Stock. Er war sehr streng und sehr beängstigend. Er hat uns nicht nur geschlagen, wenn wir Kurdisch gesprochen haben, sondern er schlug uns auch, wenn wir Fragen nicht richtig beantworteten, entweder auf den Kopf oder auf die Handflächen. Manchmal hat er uns auch getreten und geohrfeigt. Auch ließ er den Schüler, der die falsche Antwort auf seine Frage gab, von dem Schüler, der die richtige Antwort gab, schlagen. Der Lehrer sagte dem Schüler, der die richtige Antwort gegeben hatte: „Gib ihm eine harte Ohrfeige.“ Wenn die Ohrfeige des Schülers, der die richtige Antwort gegeben hatte, zu leicht war, gab der Lehrer ihm wiederum eine harte Ohrfeige. Der Schüler, der die richtige Antwort gegeben hatte, gab daraufhin seinem Mitschüler auch eine harte Ohrfeige, um eine zweite Ohrfeige des Lehrers zu vermeiden. Es spielte also keine Rolle, ob die Antwort richtig oder falsch war, beide Schüler wurden in jedem Fall geschlagen und erniedrigt.

Es war strikt verboten, in der Schule Kurdisch zu sprechen, dennoch redeten wir manchmal in den Pausen heimlich Kurdisch. Wenn das von einem Mitschüler gemeldet wurde, wurden wir verprügelt. Es gab Schüler, die speziell zum Melden verpflichtet waren. Sie gehörten zum Klassendisziplinarausschuss, was bedeutete, alle Mitschüler beim Lehrer zu denunzieren, die Kurdisch sprachen. Nie werde ich vergessen, wie der Lehrer eines Tages wieder anfing, wir dürften kein Kurdisch sprechen, und noch bevor er mit seiner Ermahnung fertig war, meldete sich ein Schüler namens Adnan und sagte: „Herr Lehrer, mein Vater hat gestern Abend meinen Bruder zu Hause geschlagen, weil er Kurdisch gesprochen hat.“ Der Lehrer beglückwünschte Adnan und forderte uns auf, ihm zu applaudieren. Wir sollten uns ein Beispiel an ihm nehmen.

Wir begannen den Schultag, indem wir in Reih und Glied stehend die Hymne, die Eid genannt wurde, wie Soldaten laut wiederholten. Wir stellten uns hierfür auf wie Soldaten. Eine Schülerin oder ein Schüler stand auf einem hohen Podest, sprach den Eid Satz für Satz vor und wir mussten diese wiederholen. Der Eid begann mit „Ich bin Türke, ehrlich und fleißig“ und endete mit „Mein Dasein soll der türkischen Existenz ein Geschenk sein. Wie glücklich derjenige, der sagt, Ich bin Türke!“ Auf diese Weise wollten sie uns türkisieren.

Für den Staat standen alle Kurdinnen und Kurden unter Generalverdacht. Für meinen Vater wie für viele andere kurdische Menschen hieß das aber, dass sie mit dem Erstarken der PKK bei jedem Vorfall und ohne Grund mitgenommen wurden, obwohl ihr einziges Vergehen war, nicht zu den staatstreuen kurdischen Stämmen zu gehören. Es kam rund um Midyat immer wieder zu Gefechten zwischen kurdischen Kämpfern – später mit der Guerilla der PKK – und den Soldaten und somit zu vielen Anlässen, an denen mein Vater, nur weil er Kurde war, mitgenommen wurde. Darüber, was meinem Vater im Polizeigewahrsam widerfuhr, sprach er nicht. Als ich erwachsen wurde, konnte ich es mir vorstellen. Diese massive staatliche Unterdrückung forderte aber auch Widerstand heraus und führte zur Herausbildung eines kurdischen Bewusstseins.

Eines Tages, ich war in der Grundschule, als wir wieder in Reihen standen und „unseren Eid“ wiederholten, sagte ich in einer unbewussten Reaktion: „Ich bin Kurde, ich bin ehrlich und fleißig“, und ein Lehrer, der auf der Höhe meiner Reihe stand, hörte es. Als der Eid zu Ende war, forderte er mich auf, vor die Hunderten von Schülern zu treten, und schlug minutenlang auf mich ein. Als einige Lehrer, die die Situation für übertrieben hielten, sagten: „Hör auf, du bringst das Kind um“, antwortete der Lehrer, der mich schlug: „Er hat unseren heiligen Eid gebrochen, er sagte, er sei Kurde“. Nach diesen Worten schlugen mich die anderen Lehrer noch härter als der erste. Ich hatte viele blaue Flecken. Damals war ich elf Jahre alt. Später wurde mir klar, dass sie auf diese Weise meinen Willen und mein Selbstvertrauen brechen und andere Schüler einschüchtern wollten. Damals verstand ich nicht, was sie taten, oder besser gesagt, ich hinterfragte es nicht. Unter diesen Bedingungen schloss ich die Grund- und die Mittelschule ab.

Anfang der 1990er wurden unzählige Dorfschützer in unserer Gegend eingesetzt. Mit dem Staat im Rücken erlaubten sie sich alle Grausamkeiten gegen die Bevölkerung. Das Harmloseste war noch, dass sie unser Eigentum im Dorf an sich rissen und als ihres nutzen. Und so war es für meine Familie selbstverständlich, dass sie 1991, als zum ersten Mal kurdische Kandidaten bei den Parlamentswahlen gewählt werden konnten, diesen ihre Stimme gab.

Meine Eltern hatten aufgrund der sich immer mehr zuspitzenden Verhältnisse große Angst um uns. Sie dachten, wir würden bald wie mein Vater auch bei jedem Anlass festgenommen werden; auch wollten sie nicht, dass wir zu viel mit Politik in Berührung kamen. Deshalb schickten sie meinen jüngeren Bruder, mich und einen älteren Bruder im Jahr 1990 in den touristischen Ort Alanya. Dort hatte mein älterer, in Schweden lebender Bruder mit einem Partner ein kleines Hotel gekauft und betrieb es. Ich besuchte in Alanya das Gymnasium und half im Hotel aus.

Die Faschisten griffen unsere Häuser und Arbeitsplätze an

Alanya war ein Bezirk, in dem die Rassisten sehr stark waren. Es leben dort viele arme Yörük-Nomaden, unter denen die faschistische MHP sehr gut organisiert war. Die in Alanya lebenden Kurdinnen und Kurden waren vor allem aus den kurdischen Gebieten Vertriebene, deren Lebensgrundlage dort vernichtet worden war. Einige von ihnen ließen sich in Alanya als Kleingewerbetreibende nieder, hatten Läden oder Imbisse und versuchten auch in der Tourismusbranche Fuß zu fassen. Dies nutzte die staatliche Propaganda aus, um gegen die Kurden Stimmung zu machen, sie schürten Neid und versetzten die Bevölkerung in Angst, die Kurden würden dem Tourismus schaden. Scheinbar spontan aber doch wie auf Knopfdruck kam es zu Übergriffen gegen Kurden und auf kurdische Geschäfte. Und im Alltag wurden wir ausgegrenzt und abwertend behandelt. Ich saß oft mit kurdischen Bauarbeitern zusammen und hörte ihre schweren Geschichten, ihre Sorgen und wie minderwertig sie auf den Baustellen behandelt wurden. All der Rassismus hatte auch das Ziel, die Geschäfte der Kurden übernehmen zu können und zu verhindern, dass sie im Tourismussektor Geld verdienten.

Insbesondere dann, wenn Soldaten bei Kämpfen mit der PKK getötet worden waren, war es für uns sehr gefährlich. Die Faschisten griffen unsere Häuser und Arbeitsplätze an und brannten sie nieder. Sie lynchten Kurden auf offener Straße. Ich erinnere mich, dass sogar drei Kurden, die an der Beerdigung eines Soldaten teilnahmen, weil sie untereinander Kurdisch sprachen, fast gelyncht wurden, obwohl sie zur Soldatenbeerdigung gekommen waren. Es war an diesen Tagen gefährlich für uns, aus dem Haus zu gehen.

Auch in der Schule wurden wir Kurden ausgegrenzt. Auf dem Gymnasium in Alanya war ich demütigendem und entwürdigendem Verhalten sowie körperlicher Gewalt ausgesetzt. Ich hatte nur wenige türkische Freunde; diejenigen, die wussten, dass ich Kurde war, hielten sich von mir fern. Deshalb taten wir uns als kurdische Schüler zusammengetan und versuchten uns gegenseitig zu schützen. An Tagen jedoch, an denen die Stimmung angespannt war oder an denen Soldatenbegräbnisse stattfanden, ging ich nicht zur Schule.

In der Schule haben wir oft mit den Lehrern diskutiert, vor allem mit unserem Geschichtslehrer. Er hieß Fehmi İzçan und hatte eine sehr rassistische Haltung und unterrichtete die Geschichte entsprechend: „Die Vorfahren der Türken sind gegen die sieben Weltmächte geritten, wir sind bis vor die Tore Wiens gekommen und haben die hinterhältigen Griechen ins Meer gefegt, ein Türke kann es mit der ganzen Welt aufnehmen.“ Eines Tages, als er wieder so sprach, fragte ich im Unterricht: „Herr Lehrer, warum waren wir vor den Toren Wiens, gehörte dieses Land nicht anderen? Warum haben die Osmanen es besetzt?“ Der Lehrer schrie mich an und drohte, mich aus der Klasse zu werfen.

Meine letzte Auseinandersetzung mit demselben Geschichtslehrer fand im Staatsbürgerkundeunterricht statt. Einer der Artikel der türkischen Verfassung, der nicht geändert werden darf, lautet: „Jeder, den mit dem türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke.“ Ich fragte: „Ist jeder, der in der Türkei lebt, ein Türke?“ Er bejahte. „Sind somit die Kurden und die Assyrer, die in meinem Heimatort leben, auch Türken?“ Der Lehrer schrie lauthals: „Es gibt keine Kurden. Sie wurden nur Kurden genannt, wegen der Fußgeräusche im Schnee wie ,kart, kurt‘ in den Bergen. Das sind Bergtürken.“

Ich hatte schon damals zu viel für mein Alter gelesen und konnte diese Erniedrigung und Abwertung nicht ertragen. Ich fragte ihn deshalb: „Ist das Türkentum nur eine Nationalitätenfrage? Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Gab es vor der Staatsgründung keine Türken?“ Statt mir zu antworten, rastete der Lehrer aus. Er warf mich aus der Klasse. Dann rief er mich zu sich und sagte, ich würde den Schülern den Kopf verdrehen, den Unterricht sabotieren, provozieren und terroristische Propaganda verbreiten.

Drei oder vier Monate nach diesem Streit, kurz vor Beginn des letzten Schuljahres des Gymnasiums, wurde ich am 9. September 1993 zusammen mit meinem 13-jährigen Bruder von der Polizei festgenommen. Ich selber war damals 18 Jahre.

Grund für unsere Festnahme war die Aussage einer Person namens Mehmet Tuncay. Diese Person, die ich ein oder zweimal in meinem Leben gesehen hatte, hatte uns falsch belastet. Er hatte sich kurz zuvor als ein Verwandter meines Schulfreundes vorgestellt, mit dem er in unser Hotel gekommen war. Wir hatten uns lediglich belanglos unterhalten. Dass wir Kurden waren, war bekannt und das versteckten wir auch nicht.

Irgendwann im Gewahrsam erfuhr ich, dass diese Person zuvor selber festgenommen worden und der schweren Folter nicht hatte standhalten können. Um die Folter zu beenden, sagte er das aus, was die Polizei hören wollte, vor allem dazu, wer angeblich von den Kurden alles der PKK angehören solle. Dieser Mehmet Tuncay, der selber Kurde war, belastete selbst Menschen, die er nur einmal gegrüßt hatte. Es heißt, es seien Dutzende Menschen wegen seiner Aussagen festgenommen worden; die Polizei fuhr sogar mit ihm an Orte und ließ sich vermeintlich politische Kurden zeigen. Alle sprachen über ihn, alle wurden mit ihm konfrontiert, einer nach dem anderen.

Wir wurden unbeschreiblich gefoltert

Bevor sie mit meiner Folter begannen, öffneten sie mir die Augen und fragten mich, ob ich ihn wiedererkenne. Ich sagte ja, ich kenne ihn, er ist mit meinem Freund in unser Hotel gekommen, daher kenne ich ihn. Tuncay behauptete hingegen, er sei nach Alanya, in diesen kleinen Bezirk gekommen, um ein Organisationskomitee der PKK zu gründen, und er habe mich dem Bezirkskomitee von Alanya zugeteilt, wo ich zwei Monate gewesen sei. Ich sagte nein, er lügt, das ist erfunden, ich habe in keinem Komitee mitgearbeitet. Aber sie haben mir nicht geglaubt und begannen, mich und meinen Bruder zu foltern.

Wir wurden unbeschreiblich gefoltert. Sie haben mir am ganzen Körper Stromschläge verpasst, besonders an den Händen und Zehen. Sie bespritzten mich mit kaltem Wasser, ich musste mich nackt auf den feuchten Beton legen. Sie wandten die Bastonade-Folter an: Sie zwangen mich zu Boden und schlugen mir viele Male auf die Fußsohlen.

In jenen Jahren betrug die offizielle Gewahrsamsdauer 15 Tage in den westlichen Provinzen der Türkei und 30 Tage in Kurdistan. Ich wurde 15 Tage lang festgehalten, und 15 Tage lang wurden mir die Augen verbunden, und sie ließen mich nicht schlafen.

Nach drei Tagen dieser Folter hörte ich die Schreie meines Bruders nicht mehr. Ich war entsetzt. Ich fragte mich, ob er die Folter nicht mehr ausgehalten und gestorben war. Ich fragte mich, ob er ins Krankenhaus gebracht worden war. Ich hielt es nicht mehr aus und fragte die Polizisten, die mich folterten, weinend und schreiend: „Wo ist mein Bruder? Zeigt mir meinen Bruder!“ Ich sagte, dass ich ihn sehen will. Sie grinsten dreckig und sagten: „Wir haben ihn in die Hölle geschickt, und wenn du nicht akzeptierst, was wir sagen, schicken wir dich auch dorthin.“ Ich wurde verrückt, ich zitterte, ich hatte ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist. In dieser Folterkammer noch am Leben zu sein war für mich eine große Qual. Der Tod kam mir schöner vor. Dazu kam die Vergewaltigung des Paares in meiner Nachbarzelle. Sie haben ein Paar vergewaltigt, Muyettin und Yıldız. Sie haben die Frau vor den Augen des Mannes vergewaltigt. Sie haben den Mann vor den Augen der Frau vergewaltigt. Ich habe ihre Schreie und ihr Flehen nie vergessen. Ich höre diese Schreie immer noch. Diese 15 Tage, die ich im Gewahrsam verbrachte, waren unsagbar schrecklich.

Unter diesen Bedingungen und in der unermesslichen Angst um meinen Bruder habe ich schließlich alle Papiere, die man mir vorlegte, mit geschlossenen Augen unterschrieben. Den Inhalt dieser Papiere erfuhr ich, als wir zur Staatsanwaltschaft gebracht wurden. Da hieß es, dass Mehmet Tuncay den Auftrag gehabt hätte, im Bezirk ein Komitee zu gründen, und ich als Mitglied dieses Komitees organisatorische Tätigkeiten durchgeführt hätte.

Bei der Staatsanwaltschaft interessierten mich die Aussagen auf diesen Papieren nicht. Die Polizei wartete demonstrativ vor der Tür, damit ich meine „Aussage“ nicht widerrufe. Doch daran dachte ich gar nicht, die einzige Frage, die mich beschäftigte, war, ob mein Bruder noch am Leben war. Sie brachten uns in einem großen Bus zum Gericht. Ich suchte im Bus nach meinem Bruder, aber er war nicht da. Ich fragte alle. Wir durften nicht miteinander reden, wenn wir es taten, wurden wir angegriffen. Niemand, den ich fragte, hat mir deshalb geantwortet. Ich fragte schließlich in meiner Not Mehmet Tuncay, ob er meinen Bruder gesehen hätte. Er sagte: „Mach dir keine Sorgen, sie haben deinen Bruder freigelassen“, aber ich glaubte seinen Worten nicht. Wir wurden von der Staatsanwaltschaft zurück ins Gefängnis gebracht. Ich konnte nicht schlafen, ich konnte nicht essen, ich war völlig verzweifelt und hilflos. Keinen klaren Gedanken konnte ich fassen. Dieser Zustand hielt an, bis meine Mutter und mein Vater zu Besuch kamen. Als ich sie sah, fragte ich sie als erstes nach meinem Bruder. Sie sagten, er sei am Leben und werde im Krankenhaus behandelt. Es war, als ob die Mauern des Gefängnisses mich erdrücken würden. Er lebte und gleichzeitig wusste ich, dass er nie wieder richtig gesund werden würde. Ein Dreizehnjähriger konnte so etwas nicht überstehen. Er litt entsprechend an vielen psychischen und körperlichen Krankheiten und verbrachte viele Jahre in Krankenhäusern.

Nach den 15 Tagen im Gewahrsam wurde ich in das Gefängnis von Antalya gebracht und nach weiteren fünf Tagen in das Buca-Gefängnis in Izmir verlegt, wo sich auch das sogenannte Staatssicherheitsgericht, kurz DGM, der Region befand. Das war das Gericht, das mich später verurteilen sollte.

Das Buca-Gefängnis war berüchtigt und sehr überfüllt. Jeden Tag wurden Hunderte von Menschen verhaftet, die auch nach Buca kamen. In Buca konnte ich das erste Mal der Person, die um sich selbst zu retten, meinen kleinen Bruder und mich belastet hatte, ernsthafte Fragen stellen. Ich fragte ihn, warum er das getan hatte, und er sagte: „Ich bin verheiratet und habe drei Kinder, wenn ich das nicht getan hätte, hätten sie meine Frau geholt und vor meinen Augen vergewaltigt. Nur deshalb habe ich gesagt, was sie hören wollten.“ Und weiter sagte er: „Ich werde das alles bei der ersten Anhörung vor Gericht erzählen, dass das nicht stimmt, dass ich gezwungen wurde. Du wirst höchstwahrscheinlich nach der ersten Verhandlung freigelassen.“

Später hörte ich, dass Polizisten gekommen seien und versucht hätten, Tuncay weiter im Gefängnis zu befragen. Sie wollten immer neue Informationen von ihm haben. Diese Person hätte ihnen aber gesagt, dass er seinen eigenen Leuten nicht noch mehr schaden wolle und dass er ihnen nichts mehr sage. Eine Woche nach diesem Gespräch ist diese Person auf verdächtige Art und Weise gestorben. Ich weiß nicht, ob er gestorben ist oder ermordet wurde, doch höchstwahrscheinlich wurde er ermordet.

Ich habe im Buca-Gefängnis die Geschichten anderer Menschen gehört, also was ihnen widerfahren ist. Es war entsetzlich. Sie hielten zum Beispiel mehrere kurdische Männer fest, die, obwohl sie noch nie ihr Dorf verlassen hatten und weder lesen noch schreiben konnten, für die Proteste in vielen großen Städten der Türkei verantwortlich gemacht wurden. Sie zwangen sie unter Folter, alle möglichen Erklärungen zu unterschreiben. Da sie nicht schreiben konnten, ließen sie sich die Papiere unterschreiben, indem sie den Daumen wie ein Siegel auf das Papier drückten. Ich kenne viele Menschen, denen ich im Gefängnis begegnet bin, die mit auf diese Art und Weise erlangten Aussagen zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind.

1993 war ein einschneidendes Jahr

1993, das Jahr unserer Festnahme, war politisch gesehen ein einschneidendes Jahr. Unser ganzes Gebiet und das Leben der Kurdinnen und Kurden wurden in eine Hölle verwandelt. Anfang 1993 hatte Staatspräsident Turgut Özal die Schrecken des Krieges gesehen und erkannt, dass sich die Türkei in einer tiefen Krise befindet. Özal bemühte sich um eine friedliche Neugestaltung der kurdisch-türkischen Beziehungen. Mehr als jeder andere brachte er zum Ausdruck, warum ein Dialog notwendig sei und warum eine Lösung für beide Seiten lebenswichtig war; dieser Lösung näherte er sich wie ein weiser Mann.

Özal rief die PKK zu einem Dialog und zur Lösung des Konflikts auf. Das übermittelte er Herrn Öcalan über Jalal Talabani, einen der Führer Südkurdistans, der später Staatspräsident des Irak wurde. Er sagte, dass nicht alles, was die PKK tue, falsch sei.

Im Vertrauen auf Özals Aufrichtigkeit rief Herr Öcalan im März einen Waffenstillstand aus. In dieser Zeit bereitete sich ein sehr starker Flügel innerhalb des Staates auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage vor. Sie begannen, an verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Änderungen zu arbeiten.

Diejenigen, die gegen die von Özal eingeleitete friedliche und politische Lösung der kurdischen Frage waren, leiteten jedoch auf ihre Weise eine neue Ära ein. Zunächst wurde Adnan Kahveci, der Özal am nächsten stehende Staatsminister, der ein Lösungspaket für die kurdische Frage ausgearbeitet hatte, ermordet. Dann wurde Turgut Özal vergiftet. Sein Grab wurde mehrmals geöffnet und die entnommenen Proben ergaben, dass er vergiftet worden war. Außerdem wurden zahlreiche Generäle und Bürokraten, die Özal nahestanden, sowie Geschäftsleute, Journalisten und Intellektuelle, die ein Paket zur Lösung der kurdische Frage vorbereiteten, getötet.

Nachdem Özal vergiftet worden war, übernahmen Staatspräsident Demirel, Ministerpräsidentin Tansu Çiller, Generalstabschef Doğan Güreş, Mehmet Ağar und andere Kräfte des tiefen Staates durch politische Putsche, Ermordungen und Regierungswechsel die Macht im Staat. Generalstabschef Doğan Güreş unternahm seinen ersten Auslandsbesuch nach London. Dass er dort internationale Unterstützung erhalten hatte, brachte er mit folgenden Worten zum Ausdruck: „London hat uns grünes Licht gegeben.“

Das besondere an diesem Jahr war, dass der legale Staat liquidiert wurde. Somit entstand ein Bandenstaat, eine neue Art von Staat, den man den tiefen Staat nannte. 1993 war ein dramatisches Jahr. Während die Befürworter des Friedens und einer politischen Lösung innerhalb des Staates liquidiert wurden, fand 1993 der größte Völkermordangriff der Geschichte auf das kurdische Volk statt. Es war das umfassendste Jahr der Entkurdifizierung in der Geschichte Kurdistans. Sie begannen, den Terror des Völkermords in vollem Umfang zu nutzen. Sie wollten den physischen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden vollenden. In ihren eigenen Worten: Sie wollten ihn zu Ende bringen. Sie beschränkten sich nicht auf die Ermordung von Ministern, dem Staatspräsidenten, Kommandeuren der Armee, Geschäftsleuten und Journalisten, sondern es wurde großer Terror gegen die gesamte Gesellschaft, insbesondere gegen die Kurdinnen und Kurden, ausgeübt.

Fast 4.000 kurdische Dörfer wurden niedergebrannt und zerstört. Millionen Dorfbewohner wurden ohne jede rechtliche Grundlage zwangsumgesiedelt. Das Jahr 1993 war ein Jahr zwischen Leben und Tod für Millionen von Kurdinnen und Kurden, die ohne irgendetwas von ihrem Hab und Gut mitnehmen zu können ins Exil geschickt wurden. Ihr Besitz, ihr Eigentum, ihre Häuser und Felder wurden geplündert und an die Dorfschützer übergeben. In den übrigen Dörfern und Städten wurden die Lebensmittel rationiert, was offiziell als Lebensmittelembargo bezeichnet wurde, und die Lebensmittel wurden unter Aufsicht verteilt.

Tausende von Menschen wurden von Dorfschützern, der JİTEM und der Hizbullah ermordet. Tausende Menschen wurden in Säurebrunnen geworfen. Tausende Menschen wurden brutal auf der Straße ermordet, mit der Schweinefessel getötet und in Kellern begraben. Tausende von Menschen wurden offen in Gewahrsam ermordet. Zehntausende von Menschen wurden ohne Anklage inhaftiert. Sie wurden für lange Jahre inhaftiert. Die Staatssicherheitsgerichte verwandelten sich in eine Bestrafungsmaschine. In den Augen dieser Gerichte waren alle Kurdinnen und Kurden Terroristen und mussten ausgerottet werden. Sie wurden automatisch zu langen Haftstrafen verurteilt.

Kurdinnen und Kurden waren nicht das einzige Ziel des Staates, es gab auch Massaker an Aleviten. In Sivas wurden 33 Intellektuelle und Kunstschaffende, die an einer Gedenkfeier für Pir Sultan Abdal teilnahmen, im Madımak-Hotel verbrannt. Eine große, vom Staat kontrollierte Menschenmenge setzte das Hotel in Brand. Die Täter wurden nie ernsthaft zur Rechenschaft gezogen, und viele von ihnen leben bis heute frei in Deutschland. In Istanbul wurde das überwiegend von Alevitinnen und Aleviten bewohnte Viertel Gazi tagelang in ein Kriegsgebiet verwandelt, Dutzende Menschen wurden von der Polizei ermordet und Hunderte verletzt.

Frauen wurden in dieser Zeit systematisch vergewaltigt. Kinder wurden in regionalen Internaten, in Assimilierungszentren, ihrer Identität beraubt, gedemütigt und häufig vergewaltigt. In den verbliebenen Dörfern und Städten wurden die Lebensmittel rationiert und nur unter Kontrolle verteilt. All das können Sie in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden.

Diese Bande, die das internationale Drogen- und Waffengeschäft, die Geldwäsche, den Menschenhandel und alle anderen illegalen Geschäfte übernommen hat, wollte nicht, dass die kurdische Frage gelöst wird. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum die kurdische Frage nicht gelöst wurde. Mit der Rhetorik des Terrorismus und unter dem Namen des Antiterrorkampfes wurde die Region im Chaos gehalten, und diese schmutzigen Verbrechen wurden mit dem Kader, den Mitteln und den Institutionen des Staates verwaltet. Daher mussten sie immer wieder Terroristen konstruieren. Der Staatsterrorismus sicherte diese Bereiche ab, indem er die Kurden, die kurdische Bewegung, die Intellektuellen und die Institutionen als Terroristen darstellten. Selbst diejenigen, die über eine Lösung des Problems nur nachdachten, geschweige denn, es lösen wollten, wurden zu Terroristen erklärt und mit harten Gewaltmethoden bestraft. In der Zeit, als Tansu Çiller Ministerpräsidentin war, teilten sie eine Beute von 20 Milliarden Dollar unter sich auf. Das wurde mit Dokumenten belegt. Sie können diese Tatsachen in den Protokollen der parlamentarischen Untersuchungskommission nachlesen.

Es war traurig und unendlich schmerzhaft

Kommen wir wieder auf meine Geschichte zurück. In dieser Atmosphäre habe ich zwei Jahre im Buca-Gefängnis verbracht. Es war furchtbar. Jeden Tag gab es körperliche Angriffe. Sie wollten den Menschen Angst einjagen, sie brechen. Soldaten betraten die Stationen unter dem Vorwand, sie durchsuchen zu müssen, und verstreuten unsere Habseligkeiten. Sie mischten unser Salz und unseren Zucker, sie mischten Reis und Linsen, sie zerrissen unsere Kleidung. Die Folter war zu einer alltäglichen Sache geworden. Sie folterten uns vor allem auf dem Weg zum und vom Gericht. Deshalb wollte niemand mehr zu den Gerichtsverhandlungen gehen, weil alle Angst vor dem Transport hatten. Die Menschen waren sehr arm, es ging ihnen und ihren Familien sehr schlecht.

Wir waren nicht nur unter diesen Bedingungen inhaftiert, wir konnten uns auch nicht gegen die Anschuldigungen verteidigen. Es war sogar schwierig, einen Anwalt zu finden. Niemand wollte solche Fälle übernehmen, da die Anwältinnen und Anwälte selber große Schwierigkeiten bekamen, wenn sie uns verteidigten, und es waren auch einfach zu viele politische Gefangene, die einen Anwalt brauchten. Diejenigen, die bereit waren, diese Fälle zu übernehmen, verlangten eine Menge Geld. Ich hatte immerhin einen Anwalt, aber er konnte nichts für mich tun.

Infolgedessen wurde mein Prozess nach zwei Jahren abgeschlossen. Obwohl mir keine Gewalttat, sondern nur vorgeworfen wurde, ich sei zwei Monate in einem Lokalkomitee der PKK gewesen, wurde ich wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die einzigen angeblichen Beweismittel gegen mich waren die unter Folter gemachte Aussage des inzwischen getöteten Tuncay und die von mir erfolterte Unterschrift. Natürlich widerrief ich die Unterschrift vor Gericht, aber das war für das Gericht unerheblich. Von diesen 15 Jahren musste ich gemäß dem Vollstreckungsrecht insgesamt elf Jahre und drei Monate verbüßen.

Nach meiner Verurteilung wurde ich in das Gefängnis von Aydın verlegt, das auch in der Nähe von Izmir liegt, und verbrachte dort drei Jahre. Das wichtigste Merkmal dieses Gefängnisses war, dass es sich bei den hierher gebrachten Häftlingen hauptsächlich um solche handelte, die bereits seit 15 Jahren inhaftiert waren und von denen einige Überlebende des Militärgefängnisses von Diyarbakır waren.

Das Gefängnis von Diyarbakır war für alle damals der Inbegriff der Hölle. Nach dem faschistischen Militärputsch vom 12. September 1980 haben sich die Ereignisse im Gefängnis von Diyarbakır in das kollektive Gedächtnis der Kurdinnen und Kurden eingebrannt. Dieses Gefängnis war ein Projekt des Militärregimes zur Unterwerfung und Zerschlagung des kurdischen Widerstandes, in dem Tausende Kurdinnen und Kurden und Linke inhaftiert und täglich systematisch gefoltert, gedemütigt und entmenschlicht wurden. Der Kommandant dieses Gefängnisses, Esat Oktay Yıldıran, über den ich noch später sprechen werde, wurde vom Regime persönlich beauftragt, dieses Gefängnis jeden Tag in eine Hölle für die Kurden zu verwandeln.

Somit kam zu den Traumata, die ich erlebt hatte, im Gefängnis von Aydın ein neues hinzu. Ich hörte von diesen alten Gefangenen, was ihnen im Militärgefängnis widerfahren war, und ich sah die Spuren einer unmenschlichen Brutalität. Ich hatte von den Ereignissen in Diyarbakır gehört, in Büchern darüber gelesen. Die Menschen selber zu sehen und zu hören, war aber was anderes. Es war für mich schockierend, es war traurig und unendlich schmerzhaft.

Aber es gab auch eine unglaubliche Solidarität unter den Gefangenen

Im Gefängnis in Aydın herrschten zwar nicht dieselben Verhältnisse wie sie im Gefängnis in Diyarbakır geherrscht hatten, aber wir – also die kurdischen politischen Gefangenen – wurden systematisch misshandelt und gefoltert und man versuchte, uns zu Türken umzuerziehen. Wie mussten für Kleinigkeiten kämpfen, um dort überleben zu können. Wenn wieder ein Häftling zur Folter mitgenommen oder sogar unter Folter getötet worden war, begannen wir einen Hungerstreik. Während der Zeit in Aydın erfuhren wir, dass Ende 1995 in dem Gefängnis von Buca, wo ich zwei Jahr inhaftiert war, Gendarmen und Soldaten politische Gefangene, die für ihre elementaren Menschenrechte eintraten, angegriffen hatten; drei Gefangene wurden getötet und Dutzende schwer verletzt. 1996 erfuhren wir von einem Gefängnismassaker in Diyarbakır, bei dem zehn Gefangene von Spezialeinheiten mit Metallstangen getötet und Dutzende schwer verletzt wurden. 1999 wurden im Ulucanlar-Gefängnis in Ankara zehn Gefangene mit direkten Schüssen in Herz und Kopf zu Tode gefoltert. Jeden Tag, den ich im Gefängnis war, gab es Nachrichten über Tod und Folter. Aber es gab auch eine unglaubliche Solidarität unter den Gefangenen.

Wir hörten von den alten Gefangenen in Aydın jedoch nicht nur Berichte über entsetzliche Behandlungen in verschiedenen Gefängnissen, sie verfügten auch über eine große politische Erfahrung. Es waren Menschen aus ganz Kurdistan. Sie erzählten Geschichten, die sie von ihren Großvätern und Großmüttern gehört hatten. Sie erzählten von dem Widerstand, der nach dem Vertrag von Lausanne, der Kurdistan in vier Teile teilte und mit dem der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden begann, zwischen 1925 und 1927 in der Gegend um Amed, Bingöl, Elazığ und Bitlis aufkam und der in der offiziellen Geschichte als „Scheich-Said-Aufstand“ bekannt ist. Sie erzählten von den Massakern, die der Staat zur Unterdrückung dieses Widerstands verübte. Auch von den Massakern von Ararat und Zilan in den 1930er Jahren erfuhr ich, und von dem Völkermord an den alevitischen Kurdinnen und Kurden in Koçgiri und Dersim, wo alevitische Kurden in großer Zahl lebten. Ich hatte in Büchern über die Ereignisse in Dersim gelesen. Aber es war etwas ganz anderes, zu hören, was die Großeltern ihren Kindern und Enkeln davon erzählt hatten, die jetzt als Kurden mit mir im Gefängnis inhaftiert waren.

Diese Erzählungen brachten mich als jungen Kurden dazu, so gut wie es ging im Gefängnis über die kurdische Geschichte zu lesen und mich zu bilden. Bei aller Brutalität und Folter im Gefängnis war es immerhin noch so, dass die politischen Gefangenen in großen Gemeinschaftszellen untergebracht waren und wir als Errungenschaft des Widerstandes der Gefangenen dort auch unsere eigenen kleinen Buchsammlungen aufbauen konnten. Ich lernte, wie die Kurdinnen und Kurden im 19. und 20. Jahrhundert kolonialisiert worden waren, als die Welt neu aufgeteilt und wieder aufgebaut wurde. Ich versuchte zu verstehen, warum die Existenz eines arbeitenden Volkes, dessen Siedlungsgebiet als Wiege der Zivilisation bezeichnet wird, zu einem strittigen Thema werden konnte, woher die Debatte, ob die Kurden als Volk existierten oder nicht, ihren Ursprung hatte.

Ich suche immer noch nach Antworten

Warum wurde die Existenz der Kurdinnen und Kurden geleugnet? Viele Völker waren in der Geschichte Opfer von Völkermorden und genozidalen Bestrebungen. Aber stand die Existenz dieser Völker zur Debatte? Der Kampf der Kurdinnen und Kurden im letzten Jahrhundert war mehr ein Kampf um den Schutz und die Anerkennung ihrer Existenz als ein Kampf um Freiheit. Es war ein Kampf darum, die Debatte, ob es Kurden überhaupt gibt, zu beenden. Wie konnte es dazu kommen, dass ein Volk überhaupt in solch eine Situation gebracht werden konnte? Ich suchte eine Antwort darauf und auf weitere Fragen, warum die bloße Existenz eines Volkes, seine Forderung nach Anerkennung und nach Freiheit, als das größte Verbrechen dargestellt werden konnten. Ich suche immer noch nach diesen Antworten.

Nach drei Jahren im Gefängnis von Aydın wurde ich in das Gefängnis von Bursa verlegt. Den 11. Juni 1998 werde ich nie vergessen. Als wir nach einer langen Reise vor dem Gefängnis von Bursa ankamen, ließen sie uns stundenlang in dem luftdichten und vergittertem Transporter unter der heißen Sonne warten. Wir konnten nicht atmen, wir waren am Ersticken. Wir erbrachen viel. In diesem Zustand blieben wir mindestens zwei oder drei Stunden. Als sich die Türen öffneten, wurden wir misshandelt und erniedrigt.

Im Gefängnis von Bursa wurde ich Zeuge der großen Gräueltat, die der Staat am 19. Dezember 2000 unter dem Namen „Operation Rückkehr zum Leben“ verübte: In fast allen Gefängnissen der Türkei wurden am Morgen gleichzeitig Massaker verübt an sich im Hungerstreik und Todesfasten befindliche politisch-linke Gefangene, zu denen die kurdischen Gefangenen nicht gehörten. Sie verbrannten Menschen bei lebendigem Leib und erschossen sie. Im Gefängnis von Bursa massakrierten sie mehrere Gefangene, die in einer Abteilung in unserer Nähe untergebracht waren, und verwundeten viele von ihnen schwer. Soldaten stürmten unsere Abteilung mit Langwaffen, drohten, uns auch zu massakrieren und zogen dann wieder ab. Diese Situation hielt tagelang an. Sie deportierten viele Gefangene in Gefängnisse des Typs F, wo sie harter Isolationshaft ausgesetzt waren. Im Zuge dieser Operation kam es zu Massakern in allen Gefängnissen der Türkei. Dutzende Gefangene wurden getötet, Tausende verletzt, gefoltert, vor allem Männer wurden bei Verlegungen vergewaltigt, ihre Köpfe wahllos kahlgeschoren und sie wurden gedemütigt.

Ich war zu dem Zeitpunkt etwa sechs Jahre lang im Gefängnis von Bursa und es waren nur noch wenige Monate bis zu meiner Entlassung. In jenen Jahren wurde der Gefangene auf Antrag in ein kleineres Gefängnis verlegt, das näher bei der Familie lag, wenn weniger als ein Jahr bis zum Ende der Haftstrafe noch ausstand. Ich hatte noch fünf oder sechs Monate. Dennoch kam ich nicht in das Gefängnis im Bezirk Derik in Mardin, in der Nähe meiner Familie, sondern wurde aus dem Gefängnis in Bursa im November 2004 entlassen.

Ich blickte dem Licht am Ende des Tunnels mit großer Begeisterung entgegen

Nach meiner Entlassung musste ich mich lange Zeit um meine Behandlung kümmern. Die Folter, die Misshandlungen und die lange Haft hatten erhebliche Spuren bei mir hinterlassen, die sich erst langsam durch Behandlung und richtige Ernährung besserten.

Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, herrschte im Gegensatz zu den 1990er Jahren eine relativ konfliktfreie Atmosphäre. Die kurdische Seite hatte ihre bewaffneten Kräfte hinter die Grenze zurückgezogen. Seit 1993 hatte die kurdische Bewegung mit einseitigen Waffenstillständen ihre Aufrichtigkeit unter Beweis gestellt. Sie organisierte Friedensgruppen, um den Boden für eine Lösung zu bereiten, und versuchte wiederholt, den Prozess durch Waffenstillstände und militärische Inaktivität zu steuern.

Obwohl verschiedene Schritte für eine tiefgreifende und dauerhafte demokratische Lösung der kurdischen Frage und einen würdevollen Frieden auf der Grundlage eines Dialogs unternommen wurden, konnte keine Lösung erreicht werden. Die vorherrschende chauvinistische Mentalität und genozidale Politik der Türkei, die Interessenpolitik der internationalen Mächte, die innere Rückständigkeit der regionalen Mächte und viele andere Gründe haben eine Lösung des Problems verhindert. Kurz gesagt, während der Staat auf der einen Seite Hoffnung schürte, indem er über eine Lösung diskutierte, produzierte er auf der anderen Seite mit destruktiven und genozidalen Methoden das Scheitern einer Lösung. Beide Entwicklungen verliefen parallel.

Wichtig war mir aber, dass lösungsorientierte Gespräche auf der Tagesordnung standen und die Menschen Hoffnung auf Frieden hatten. Das half mir auch, mich nicht verbittert zurückzuziehen oder ins Ausland zu fliehen. Aus dieser Atmosphäre schöpfte ich die Kraft, an eine politische Lösung und Frieden zu glauben und zu versuchen, einen kleinen Beitrag für die Demokratisierung der Türkei und für die Lösung der kurdischen Frage zu leisten. Wie auch das kurdische Volk blickte ich dem Licht am Ende des Tunnels mit großer Begeisterung entgegen. Immer wieder hatten die Kurdinnen und Kurden die Leichname ihrer Kinder in Empfang nehmen müssen. Endlich wollten sie ihre Kinder lebendig umarmen. Keine Mutter sollte mehr ihre toten Kinder empfangen müssen. Die Kurdinnen und Kurden wollten die Rechte haben, mit denen sie geboren wurden, wie alle anderen Menschen auf der Welt auch. Das kurdische Volk wollte die Freiheit seiner Identität, seiner Kultur und seiner Sprache. Es hat im Kampf um die Rechte, die jedem Menschen von Geburt an zustehen sollten, einen hohen Preis bezahlt. Und es zahlt weiterhin einen hohen Preis.

Was mir wichtig ist zu betonen: Die Kurdinnen und Kurden fordern nicht viel, sie wollten nur die Anerkennung ihrer Identität, sie wollten ihre Sprache frei sprechen und ihre Kultur frei und selbstbestimmt leben können. Die Kurdinnen und Kurden wollten weder eine neue Religion, noch wollten sie fremdes Land besetzen. Sie wollten menschlich leben. Sie wollten als Kurden zusammen mit den Türken und allen anderen Völkern in der Türkei in Würde leben.

Abdullah Öcalan setzte sich für eine demokratische Lösung ein

2005 sagte Erdoğan in einer Rede in Amed: „Das kurdische Problem ist auch mein Problem. Große Staaten machen auch Fehler. Die Pflicht der großen Staaten ist es, sich für ihre Fehler zu entschuldigen.“ Diese Rede weckte bei Kurdinnen und Kurden große Hoffnungen. Kurz darauf sagte jedoch derselbe Erdoğan: „Der Staat wird tun, was notwendig ist, egal ob es sich um eine Frau oder ein Kind handelt.“ Diese Rede bedeutete, dass der Staat wieder anfangen würde, kurdische Kinder und ihre Mütter zu massakrieren.

Dennoch waren die Kurdinnen und Kurden bereit, jeden Preis zu zahlen, um eine demokratische Lösung und eine Friedensmentalität zu etablieren. Die strategische Arbeit der Kurden und ihrer Institutionen konzentrierte sich auf eine demokratische Lösung und einen würdevollen Frieden.

Herr Öcalan ist derjenige, der sich am meisten für eine friedliche, politische und demokratische Lösung der kurdischen Frage einsetzte und in dieser Hinsicht die größten Anstrengungen unternommen und die größten Fortschritte erzielt hat. Ohne die Bemühungen von Herrn Öcalan wäre dieser Entwicklungsstand nicht möglich gewesen. Wenn die Freiheitsbewegung und die Kurdinnen und Kurden nicht zu einer demokratisch-politischen Bewegung für eine Lösung geworden wären, hätte niemand von einer friedlichen, demokratischen und politischen Lösung der kurdischen Frage sprechen können. Darüber hinaus kann ich ohne weiteres sagen, dass Herr Öcalan zu den Menschen gehört, die wirklich eine Lösung für die Geschwisterlichkeit und die Einheit der Völker wollen, die die kurdische Frage geschwisterlich mit der Gesellschaft der Türkei im Besonderen, sowie mit den arabischen und persischen Völkern, mit den armenischen, assyrischen und griechischen Völkern lösen wollen, und die aufrichtig daran glauben und dies mit Überzeugung tun.

Wie können wir die Zukunft heilen?

Als ich in der Türkei im Gefängnis war, las ich die Losung „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ der Häftlinge, die die deutschen Konzentrationslager überlebt hatten. Als jemand, der seit vielen Jahren von einer freien Welt ohne Krieg, Herrschaft, Besatzung, Massaker, Völkermord und Faschismus und auf der Grundlage von Diversität träumt, habe ich, um diese Träume zu verwirklichen, mit dem Gedanken gehandelt: „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können die Zukunft heilen.“ Wie können wir die Zukunft heilen, wie können wir die blutenden Wunden schließen, die nicht heilen konnten? Das waren die Fragen, die mich umtrieben, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde und die Hoffnung auf eine friedliche Lösung aufkeimte.

Meine Antwort auf die Frage war, dass sich zunächst Staat und Gesellschaft mit der Vergangenheit auseinandersetzen und Rechenschaft ablegen mussten. Dazu war es notwendig zu wissen, was in der Geschichte geschehen war, welche Massaker und Völkermorde begangen wurden, warum die Menschheit so viel gelitten und warum es so viel Krieg und Zerstörung gegeben hatte. Kurdinnen und Kurden, die die Schrecken der neunziger Jahre miterlebt haben, schweigen gewöhnlich nach jeder schmerzlichen Erinnerung eine Weile und sagen dann: „Lasst diese Tage vorübergehen, lasst sie nie wiederkommen.“ Es ist nicht so einfach, wie es scheint, diesen Wunsch zu erfüllen, einen Wunsch, gegen den niemand etwas einzuwenden hat, wenn er ihn zum ersten Mal hört, und dem fast alle zustimmen würden. Es ist ein schwieriger, aber notwendiger Prozess. Wenn wir wollen, dass diese Tage verschwinden und nie wiederkehren, wenn wir das wirklich wollen, dann gibt es einen Weg. Dieser Weg führt über das Verstehen der Vergangenheit und über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

In der Tradition des türkischen Staates gibt es keine Auseinandersetzung mit den von ihm begangenen Massakern und Völkermorden, kurz mit seiner Vergangenheit. Viele Staaten haben sich mit den Massakern und Völkermorden ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, aber die Türkei ist von keinem Staat dazu aufgefordert worden. Dennoch ist der türkische Staat derjenige in der Welt, der sich heute am meisten mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen muss.

Da sich der türkische Staat nie mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und sie nicht aufgearbeitet hat, ist keine Wunde verheilt. Die kurdische Wunde blutet immer noch. Denn der Staat selbst lässt die Wunden nicht verschorfen. Das Jahr 1993 und die neunziger Jahre im Allgemeinen waren Zeiten des Umbruchs. Sie sind eine Zäsur in der Geschichte der Türkei, weil der Staat sich seiner Vergangenheit nicht gestellt hat. Es war ein Umbruch, der vorher sagte: „Ich komme.“ Vor allem für die Kurdinnen und Kurden, die alevitische Gemeinschaft und andere Völker.

Der türkische Staat hat in seiner gesamten Geschichte seine Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Deshalb waren die Ereignisse der 1990er Jahre zwangsläufig. Weil er sich den Massakern und dem Völkermord an den Armeniern, Assyrern, Chaldäern, Griechen und Pontiern nicht gestellt hat, hat er in den 1920er Jahren die kurdischen Alevitinnen und Aleviten in Koçgiri massakriert. Auch diesem wollte er sich nicht stellen und verübte 1925 und in den folgenden Jahren die Völkermorde von Sheik Said, Zilan, Aǧrı und Dersim.

In Zentralanatolien und am Schwarzen Meer wurden 300.000 Pontusgriechen einem Völkermord ausgesetzt. Tausende wurden ins Exil getrieben, der Rest islamisiert und türkisiert. Hätte der türkische Staat dieses Massaker und diesen Völkermord aufgearbeitet, wäre es 1934 nicht zu einem Pogrom gegen die Juden in Thrakien gekommen. Hätte man sich mit diesem Massaker auseinandergesetzt, wären die Vermögensteuer von 1942 und das Pogrom an der griechischen Bevölkerung und anderen Völkern in Istanbul am 6. und 7. September 1955 nicht durchgeführt, Häuser und Arbeitsplätze nicht geplündert, Massaker und Vergewaltigungen nicht begangen und Völker nicht vertrieben worden.

Auch wären griechische und andere Völker nicht unter dem Vorwand der Spannungen in Zypern im Jahr 1964 deportiert worden. Das Priesterseminar auf der Insel Heybeli wäre nicht geschlossen worden. Hätte es eine Aufarbeitung gegeben, wäre Zypern 1974 nicht vor den Augen der ganzen Welt mit der Parole „Zypern ist türkisch und wird türkisch bleiben“ überfallen worden und die Menschen wären nicht massakriert, die Frauen nicht vergewaltigt, Menschen nicht in die Türkei verschleppt und unter Folter umgebracht worden.

Die Massaker an den Alevitinnen und Aleviten in Maraş, Çorum und Dersim wären nicht geschehen, wenn es eine Auseinandersetzung gegeben hätte. Es wurde keiner für die Völkermorde an den Armeniern, Assyrern, Griechen und Pontiern sowie für die Pogrome gegen Juden zur Rechenschaft gezogen, sie wurden nie juristisch oder politisch aufgearbeitet.

Schon die Erwähnung dieser Verbrechen, insbesondere des Völkermordes an den Armenierinnen und Armeniern, gilt heute als Straftat. Da es in der Vergangenheit keine Aufarbeitung gab, gehen Völkermorde, Besatzungen und Massaker weiter. Die Mentalität der Massaker, des Völkermordes und der Besatzung setzt sich vor den Augen der Welt in verschiedenen Formen fort.

All diese Wunden bleiben offen, weil es keine wirkliche Geschichtsschreibung und keine juristische Aufarbeitung gibt. Es gibt so gut wie keine Auseinandersetzung mit irgendeiner Epoche der Geschichte.

Durch Bildung zur Aufklärung der Gesellschaft beitragen

Um auf meine Fragen zurückzukommen: Wie können wir die Zukunft heilen, wie können wir die blutenden Wunden schließen, die nicht heilen konnten? Mein Ziel war es, diese und viele ähnliche Fragen zu beantworten und Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wie ich bereits erwähnte, habe ich mich während meiner Zeit im Gefängnis so gut wie möglich weitergebildet. Ich habe gelesen und andere Gefangene über viele andere Themen sprechen gehört, nicht nur zur kurdischen Geschichte, sondern auch über Geschichte allgemein, über Philosophie, Religion und Wissenschaft.

Als eine praktische Antwort auf meine Frage gründete ich zusammen mit Akademikerinnen und Akademikern, Lehrkräften und gebildeten Menschen aus verschiedenen Berufen einen Verein in Amed, der sich die Bildung der Bevölkerung zum Ziel gesetzt hatte. Es war eine Art Akademie, in der wir akademische Forschung betrieben, Workshops und Seminare gaben, Podiumsdiskussionen organisierten und ähnliche Aktivitäten machten.

Wir versuchten, durch Bildung zur Aufklärung der Gesellschaft und zum sozialen Frieden beizutragen. Wir erklärten die Verheerungen des Fundamentalismus, des Nationalismus und des Sexismus und wie sie die Menschen vergiften, wie sie die Gesellschaft zersplittern und zersetzen, die Zerstörungen durch die Kriege in der Geschichte und in der Gegenwart. Wir haben versucht, eine Mentalität zu schaffen, in der Unterschiede nicht zu Ausgrenzung und Marginalisierung führen, sondern als Reichtum wahrgenommen werden. Es war unser Ziel, dass kein Mensch aufgrund seiner Identität, seiner Kultur, seines Glaubens oder seines Geschlechts diskriminiert wird und zu versuchen, eine gemeinsame demokratische Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln.

Aufgrund der Geschichte meiner Familie und meiner Herkunft aus Midyat konnte ich besonders überzeugend und praktisch schildern, wie ein Zusammenleben möglich ist, aber auch, was die Folgen sind, wenn gegenseitig Hass geschürt wird und wie schnell Nachbarn zu Todfeinden werden können, wenn sie keine festen Werte und Überzeugungen haben.

Neben dieser Bewusstseinsbildung arbeiteten wir auch unter der Anleitung von erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen mit Jugendlichen gegen Drogenabhängigkeit und andere Abhängigkeiten, die der Staat vor allem bei kurdischen Kindern und Jugendlichen begünstigt hatte. Dank dieser Arbeit konnten sich viele Kinder und Jugendliche von diesen Abhängigkeiten befreien. Dieser Bildungsarbeit konnten wir lange Zeit ungestört nachgehen.

Und ich wurde zum zweiten Mal verhaftet

Im Jahr 2009 standen Kommunalwahlen an. Als Bürgermeister für die Stadt Ağrı, die im kurdischen Gebiet liegt, kandidierte Murat Öztürk, ein enger Freund von mir, den ich aus dem Gefängnis kannte. Er war von der DTP, der damals aktiven legalen kurdischen Partei, aufgestellt worden. Ich bin für etwa einen Monat nach Ağrı gereist, um ihn im Wahlkampf zu unterstützen. Und tatsächlich gewann mein Freund die Wahlen. Jedoch gab es offene Wahlfälschung zu Gunsten des AKP-Kandidaten und es wurde schließlich erklärt, dieser habe die Wahl gewonnen. Dieses Vorgehen zeigt, wie fragil die Situation damals war: Auf der einen Seite herrschte eine liberale Stimmung und der Beginn der Friedensverhandlungen stand vor der Tür und zugleich hatte der Staat oder Teile des Staates große Angst vor demokratisch gewählten kurdischen Politikerinnen und Politikern und einer selbstbewussten und starken kurdischen Zivilgesellschaft, die ihre demokratischen und bürgerlichen Rechte einforderte.

Die Proteste als Vorwand nutzend, griffen Sicherheitskräfte die Protestierenden brutal an. Sie begannen, unterschiedslos alle zu verhaften, die sich tatsächlich oder vermeintlich an den Protesten beteiligt hatten. Als ich, während die Proteste noch andauerten, morgens das Haus verließ, wurde ich zusammen mit zwei meiner Freunde festgenommen. Die Festnahme war absurd, hatte ich doch nichts anderes gemacht, als mich am Wahlkampf zu beteiligen und noch nicht einmal an den Protesten teilgenommen. Es war der 31. März 2009.

Als wir zur Polizeistation gebracht wurden, sahen wir, dass viele weitere Menschen wegen der Proteste festgenommen worden waren. Die Atmosphäre war angespannt. Die Polizei misshandelte die Festgenommenen wahllos. Hunderte Menschen wurden dem Haftrichter vorgeführt. Und ich wurde also zum zweiten Mal verhaftet.

Meine Gefühle, als man mich rund vier Jahre nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis erneut inhaftierte, kann ich nicht beschreiben. Ich hatte das Gefühl, als ob die Wände auf mich einstürzen würden. Erst brachte man mich ins Gefängnis von Ağrı und verlegte mich eine Woche später in das Gefängnis von Erzurum, das für seine Misshandlungen bekannt war. Am Eingang des Gefängnisses wurden wir der sogenannten „Begrüßungsprügel“ unterzogen. Danach wurden wir in Zellen geworfen und entwürdigend behandelt. So schrecklich wie die Zeit in Erzurum auch war, war sie doch nicht mit dem, was ich in den 1990er Jahren erlitten hatte, vergleichbar.

Ich war sechs Monate und 13 Tage in diesem Gefängnis und wurde in der ersten Hauptverhandlung am 6. Oktober 2009 von dem Vorwurf, Mitglied in der PKK zu sein, freigesprochen, so wie ich eigentlich auch in meinem ersten Strafverfahren, in dem ich zu 15 Jahren verurteilt worden war, hätte freigesprochen werden müssen. Mein Freispruch zeigt, dass in diesen Jahren eine andere Stimmung herrschte. 2009 war ein Jahr, in dem über die Entsendung von Friedensgruppen diskutiert wurde und in dem die Justiz Menschen freisprach, wenn die Anschuldigungen eindeutig ungerechtfertigt waren, so wie in dem Fall gegen mich. Aber auch diese Haltung der Justiz war nicht von Dauer.

KCK-Operationen: Vernichtung der legalen demokratischen kurdischen Strukturen

Rückblickend erkennt man, dass es in dieser Zeit verschiedene Interessengruppen im türkischen Staat und keine einheitliche Linie gab. Noch während ich in Erzurum in Haft war und vor meinem Freispruch, begann am 14. April 2009 unter dem Namen „KCK-Operationen“ die groß angelegte Vernichtung der legalen demokratischen kurdischen Strukturen. Dies geschah – wie wir heute wissen – parallel zu den geheimen Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat in Oslo. Eine weitere große Operation im Rahmen der KCK-Ermittlungen erfolgte am 24. Dezember 2009, nachdem ich bereits entlassen worden war. Bei dieser Operation wurden Abgeordnete, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Politikerinnen und Politiker, Gewerkschafter, Rechtsanwälte, Medienschaffende sowie Führungskräfte und Mitglieder von Frauenorganisationen und anderen Nichtregierungsorganisationen festgenommen und verhaftet.

Auch unser Verein in Amed wurde im Rahmen dieser zweiten Operation durchsucht und viele Mitglieder wurden festgenommen. Zufälligerweise war ich nicht anwesend und entging also durch großes Glück der Festnahme, aber ich wurde von da an gesucht.

Mit den KCK-Operationen wurden die Strukturen der aufkeimenden kurdischen Zivilgesellschaft angegriffen und zu zerstören versucht, wie sich an den Berufsgruppen zeigt, aus denen die Festgenommen stammten. Ihnen wurden keine Gewalttaten vorgeworfen, sondern nur, dass sie als Wissenschaftler, Bürgermeister, Gewerkschaftler oder Anwälte ihren Beruf ausgeübt hatten, aber dies im Interesse der KCK getan haben sollen. Sie wurden beschuldigt der KCK anzugehören.

Es ging also Teilen im Staat offenkundig darum zu verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden mit einer starken Zivilgesellschaft im Rücken in die Verhandlungen mit dem türkischen Staat gingen. Sie wollten nicht, dass die Kurden demokratische Institutionen aufbauen. Sie wollten nicht, dass die Kurdinnen und Kurden in den Kommunalverwaltungen stärker werden und sich direkt an demokratischen Aktivitäten beteiligen. Von den Verhandlungen wussten wir damals aber nichts. Wir sahen nur, wie Tausende, die sich in irgendeiner Weise für die kurdische Sache einsetzten, festgenommen und vor Gericht gestellt wurden. Die Verfahren bezweckten auch die Einschüchterung all derjenigen, die noch nicht festgenommen worden waren. Demokratisch gewählte Abgeordnete, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der kurdischen Parteien wurden entwürdigend in Handschellen in langen Reihen aufgereiht und in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Es waren politische Massenverfahren.

Die im Jahr 2010 erhobene Anklageschrift im sogenannten KCK-Hauptverfahren, in dem auch ich angeklagt bin, hat über 7000 Seiten und richtet sich gegen 151 Menschen, von denen über 100 verhaftet worden waren. Allein das zeigt schon die politische Natur dieses Verfahrens. Die Prozesse, die gegen die vielen verhafteten Menschen liefen, waren Schauprozesse, abgehalten in riesigen Sälen und ohne Prüfung von individuellen Handlungen.

Es war also für mich unmöglich geworden, in der Türkei zu bleiben. Es wäre grausam gewesen, erneut gefoltert und in ein türkisches Gefängnis geworfen zu werden. Ich konnte nicht erneut auf einen Freispruch hoffen, auch wenn ich mit der KCK nichts zu tun und nur meine Bildungsarbeit gemacht hatte. Ich musste vielmehr damit rechnen, erneut unschuldig für unzählige Jahre in den türkischen Kerkern zu verschwinden, misshandelt und gefoltert zu werden. So schwer es mir fiel, war das einzige, was mir blieb, das Land zu verlassen.

Zypern als Zufluchtsort

Ich floh also nach Zypern. Das war im Januar des Jahres 2010. Für Zypern als Zufluchtsort hatte ich mich entschieden, weil ich hoffte, dort schnell Aufnahme zu finden. Ich wusste, dass das zyprische Volk unter türkischer Besatzung ähnliches wie die Kurden durchgemacht hatte. Schließlich waren die grausamsten Gefängniswärter diejenigen gewesen, die an der Zypern-Invasion 1974 beteiligt gewesen waren. Und ich hatte von meinen ehemaligen Mithäftlingen, die zuvor im Militärgefängnis von Diyarbakır inhaftiert gewesen waren, die Geschichten über den bereits genannten Direktor des Gefängnisses, Esat Oktay Yıldıran, gehört. Im Auftrag und mit Genehmigung des Staates hatte er ein Konzept der physischen und psychischen Vernichtung von politischen Gefangenen entwickelt und umgesetzt. Gegenüber den Gefangenen hatte er sich damit gebrüstet, als Teilnehmer bei der Zypern-Invasion griechische Kinder vor den Augen ihrer Mütter getötet zu haben. Dieser Sadist ließ die Gefangenen in Diyarbakır jahrelang durch die Hölle gehen.

Nach langer und gefährlicher Flucht in Zypern angekommen, beantragte ich dort politisches Asyl. Wie erhofft, wurde ich zwei Jahre später als politischer Flüchtling anerkannt und erhielt einen Flüchtlingspass. Wichtigster Grund für meine Anerkennung war, dass ich in dem politischen KCK-Verfahren beschuldigt und gesucht wurde. Ich rechnete aufgrund der aktuellen Informationen damit, dass ich, wie andere nicht verhaftete Angeklagte auch, durch die Türkei wegen dieses Verfahrens bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben werde.

Aus der Perspektive des Exils und als einer, der mit der Bevölkerung der Republik Zypern lebte, erlebte ich die Hochs und Tiefs der folgenden Jahre: Den Beginn der offiziellen Friedensverhandlungen im Jahr 2013, gefeiert mit einem riesigen Fest an Newroz in Amed, die unglaubliche Enttäuschung, als Erdoğan den Verhandlungstisch endgültig umwarf. Der Kampf der Kurdinnen und Kurden gegen den Islamischen Staat und der Aufbau von demokratischen Strukturen nach dem Vorbild des demokratischen Konföderalismus in Rojava auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die türkische Unterstützung des Islamischen Staates, die Zerstörung von elf Städten in Nordkurdistan sowie die Besetzung von Nordsyrien und die Einnahme von Efrîn, die zum Massaker an Tausenden Menschen und zur Vertreibung von Millionen von Menschen führten. Im Jahr 2018 in Efrîn und im Jahr 2019 in Serêkaniyê und Girê Spî töteten das türkische Militär und seine dschihadistischen Banden die dort lebenden Kurdinnen und Kurden und vertrieben sie. Auch auf Zypern spürte ich die Angst vor der aggressiven nationalistischen Politik der Türkei. Die vielen Jahrzehnte der türkischen Besatzung hatte die Bevölkerung gelehrt, wie gefährlich und unberechenbar die Türkei war. Und ständig provozierte und drohte Erdoğan.

Wie schon im Gefängnis hörte ich auch in Zypern Geschichten von Verfolgung und Massakern, über die ich bisher nur gelesen hatte. Zypern wurde zuletzt 1974 vom türkischen Staat auf sehr blutige Weise besetzt und die Besatzung wurde schamlos als Friedensoperation bezeichnet. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit fanden Massaker statt. Frauen wurden vor ihren Kindern vergewaltigt. Viele Menschen wurden in die Türkei deportiert und verschwanden dort. Das zyprische Volk trauert noch immer noch um die unbekannt vergrabenen Gebeine seiner Kinder. Zugleich hat das zyprische Volk auch viel Widerstand geleistet und muss doch seit 50 Jahren mit der Tragödie der Besatzung leben. Ich habe Freunde in Zypern, die aus Prinzip bis heute keinen Schritt in das besetzte Zypern getan haben, obwohl die Grenze auf der kleinen Insel mitten durch die Stadt Nikosia verläuft. Der Krieg des türkischen Staates gegen die Kurdinnen und Kurden wird unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung geführt. Und was ist die Rechtfertigung für die Besatzung und Vertreibung auf Zypern? Warum akzeptieren die europäischen Staaten, insbesondere Deutschland, die seit 50 Jahren andauernde Besatzung Zyperns durch den türkischen Staat?

Die richtige Lösung ist eine demokratische Nation

Abschließend ist es mir wichtig zu sagen, dass das, was ich soeben geschildert habe, im Vergleich dazu, was das kurdische Volk erleiden musste, wie ein Tropfen auf dem heißen Stein oder ein Sandkorn in der Wüste ist. Und trotz allem, was dieses Volk erlitten hat und was ich erlebt habe, kann ich sagen, ich glaube weiterhin, dass eine friedliche Lösung möglich ist, und trete für diese ein. Es wird keinen Frieden geben, wenn man sagt: „Wir werden die Kurden ausrotten, der Krieg wird weitergehen, bis der letzte Terrorist vernichtet ist.“ Die Kurdinnen und Kurden haben genauso ein Recht auf ein Leben in Frieden und Wohlstand in dieser Region wie Türken, Perser und Araber. Um eine Lösung zu finden, müssen die türkisch-persisch-arabischen Nationalstaaten das nationalstaatliche Verständnis überwinden, das besagt: „Tod den Kurden“. Ein solches nationalstaatliches Verständnis ist faschistisch. Es bietet keine demokratische Lösung. Man kann nicht existieren, indem man sich gegenseitig vernichtet. Die Türkei kann nicht für Frieden und Wohlstand sorgen, indem sie Kurdistan sowie Zypern und die Region besetzt hält. Die richtige Lösung ist eine demokratische Nation, in der alle Völker, Religionen und Kulturen zusammenleben können. Der Ansatz „Ich kann noch Blutrünstigeres tun“ wird niemals zu Frieden und Demokratie führen. Ansonsten hätten die türkisch-persisch-arabischen Staaten mit dem, was sie den Kurdinnen und Kurden seit Jahrhunderten antun, schon Erfolg gehabt.

Frieden kann nicht erreicht werden, wenn alle kurdischen Stimmen ausgelöscht werden, wenn sie kulturell und physisch vernichtet werden. Frieden ist nur möglich, wenn auch den Kurdinnen und Kurden die grundlegenden bürgerlichen Rechte zuerkannt werden und sie ihre Identität, Sprache und Kultur frei und selbstbestimmt leben können.